Pflegerisches Assessment des Thromboserisikos

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Hintergrund

Venöse Thrombosen bzw. Thromboembolien sind häufige und schwerwiegende nosokomiale Komplikationen. Ohne Prophylaxe treten venösen Thrombosenembolien in der Chirurgie bei 25-50% der Patienten auf. Sie sind verbunden mit einer hohen Mortalität und langfristigen schwerwiegenden Komplikationen (z.B. pulmonaler Hypertonie) (Meyer et al. 2004). Die Prävention ist von äußerster Wichtigkeit in der pflegerischen und medizinischen Versorgung. Risikofaktoren für die Entstehung von venösen Thromboembolien sind vielfach untersucht und bekannt (Virchowsche Trias). Die Bestimmung des Thromboserisikos mit einfach zu führenden Einschätzungsskalen könnte die Grundlage für die angemessene Anwendung wirksamer prophylaktischer Maßnahmen sein. In Deutschland kursieren einige von Pflegenden durchführbare Skalen zur Einschätzung des Thromboseriskos, die z.T. auch in (elektronischen) Dokumentationssystemen und in Fachbüchern enthalten sind. Die beiden am häufigsten erwähnten sind die Skalen nach Frowein (1997) und nach Kümpel (1995). Alle bekannten Thromboseskalen fragen bekannte Risikofaktoren ab (z.B. Mobilität, Alter, Operationen usw.).

Vor- und Nachteile der systematischen Einschätzung des Thromboserisikos durch Pflegende

Pflegende schätzen aufgrund Ihrer Erfahrung ständig mögliche Risiken der Patienten ein. Die Einschätzung beruht dabei auf dem Erkennen bestimmter wiederkehrender „Muster“, ein intuitives, sofortiges Erfassen, dass das klinische Bild eines Patienten mit bereits häufig gemachten Erfahrung abgleicht („pattern recognition“; Sackett et al. 1991). Im Gegensatz dazu wird durch das Ausfüllen einer Skala zusätzlich versucht, die Einschätzung zu systematisieren und zu objektivieren. Es soll eine klare Unterscheidung zwischen Gefährdeten und Nicht-Gefährdeten Patienten erreicht werden. Darüber hinaus soll das Bewusstsein der Pflegenden für die Problematik geweckt werden. Das Ausfüllen von Risikoeinschätzungsskalen wird außerdem auch häufig als qualitätssichernde Maßnahme angesehen.

Problem

Durch das regelmäßige Ausfüllen einer Skala wird ein Teil der ohnehin knappen Zeit der Pflegekräfte beansprucht. Es sollten also nur Skalen eingesetzt werden, die in der Lage sind das Risiko tatsächlich genau anzugeben. Idealerweise sollte, daraus folgend, ein direkter Nutzen für die Patienten durch die zielgerichtete Anwendung wirksamer Prophylaxen nachgewiesen sein. Es sollte also auf Stationen, die eine Thromboseskala verwenden, weniger Patienten mit Thrombosen geben!

Wissenschaftliche Überprüfung von Assessmentinstrumenten

Die Entscheidung, ob ein Assessmentinstrument benutzt werden sollte, erfordert den wissenschaftlichen Beleg seiner Gültigkeit und Zuverlässigkeit. Bereits 1995 wurden Kriterien für die Qualität aufgestellt (Wyatt & Altman 1995): Hierzu zählen z.B.

  • Überprüfung in einer klinischen Studie
  • Feststellen der Testeigenschaften („Sensitivität“, „Spezifität“)
  • Überprüfung bei unterschiedlichen Patientengruppen
  • Beleg für eine gute Übereinstimmung der Ergebnisse bei mehreren Untersuchern („Interraterreliabilität“)
  • gute Akzeptanz bei den Personen, die den Test in der Praxis durchführen sollen
  • einfache Handhabbarkeit.

Aktuell wird von einigen Autoren ein „Evidenz-basiertes Assessment“ gefordert (Gluud & Gluud 2005). Das beinhaltet einerseits die oben genannten Kriterien, aber darüber hinaus auch den Nachweis eines Nutzens für den Patienten in einer randomisiert-kontrollierten Studie. Nur so kann die in der Praxis nicht zu trennende Verbindung von Assessment und prophylaktischen oder therapeutischen Maßnahmen berücksichtigt werden. Eine Skala sollte also erst dann in der Praxis eingeführt werden, wenn ein Nutzen des umfassenden Vorgehens (Assessment und nachfolgende Maßnahmen) belegt ist (Meyer et al. 2005). Auch für das Thromboseassessment gilt diese Aussage. Es muss gezeigt werden, dass der Nutzen den Schaden überwiegt, auch wenn der mögliche Schaden der durch das Ausfüllen der Skala verursacht wird, in diesem Fall wohl „nur“ in der Vergeudung von Zeit der Pflegenden besteht.

Wissenschaftliche Erkenntnisse aus Studien zu Thromboseskalen

Es gibt eine Reihe von Artikeln, die Thromboseskalen beschreiben. Insgesamt finden sich in der gesamten internationalen Literatur aber nur vier Studien, die ein pflegebezogenes, nicht invasives Thromboserisiko-Assessment im Krankenhaus auf Güte („Validität“) und Nachvollziehbarkeit („Reliabilität“) untersucht haben (Autar 1996, Autar 2003, Feuchtinger 2001, McCaffrey et al. 2007).Die vier Studien haben allesamt methodische Mängel, die die Aussagekraft deutlich einschränken. Nur die Autar DVT-Skala wurde mehr als einmal untersucht (Autar 1996, Autar 2003). In der neueren Studie (Autar 2003) wurde die Anwendung bei 150 Patienten in einem englischen Krankenhaus überprüft. Es zeigte sich eine gute Übereinstimmung (85-96%) bei Einschätzungen durch unterschiedliche Pflegende. Die Genauigkeit der Einschätzung war mäßig: Von 28 Patienten, die eine Thrombose entwickelten waren 7 richtig als gefährdet eingeschätzt worden (=Sensitivität 25%), von 120 Patienten, die keine Thrombose entwickelten, wurden 108 richtig als nicht gefährdet eingeschätzt (=Spezifität 90%). Die einzige deutsche Studie (Feuchtinger 2001) untersuchte die Kümpelskala bei 281 deutschen Krankenhauspatienten. Die Übereinstimmung verschiedener Pflegekräfte war auch hier gut. Da bei den untersuchten Patienten nicht eine Thrombose aufgetreten ist, lässt sich leider nichts über die Genauigkeit der Vorhersage ableiten (auch wenn die Autoren es „hypothetisch“ versuchen). Aufgrund der methodischen Schwächen der Studien, ist die Frage nach der Güte der Skalen nicht zu beantworten, das geht nur mit Studien höherer Qualität. Der Nutzen für den Patienten kann darüber hinaus nur im Rahmen einer randomisiert-kontrollierten Studie erfasst werden. Nur so könnte das umfassende Vorgehen bestehend aus Assessment und daraus folgender Prophylaxe bzw. Behandlung mit der Standardversorgung verglichen werden, bei der das Risiko durch die Pflegenden jederzeit „intuitiv“ und erfahrungsbasiert eingeschätzt wird.

Schlussfolgerung

Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Einführung von Skalen zum pflegerischen Thromboserisiko-Assessment nicht zu empfehlen. Da die Risikofaktoren für ein erhöhtes Thromboserisiko gut belegt sind, ist eher eine nachdrückliche Vermittlung dieser Faktoren in der Aus- und Fortbildung Pflegender zu fordern. Es gibt derzeit keinerlei Belege, aus denen sich eine fachliche oder juristische Verpflichtung Pflegender zur Verwendung einer Thromboseskala ableiten ließe.

siehe auch

Literatur

  1. Autar, R. (1996). Nursing assessment of clients at risk of deep vein thrombosis (DVT): the Autar DVT scale. Journal of Advanced Nursing, 23, 763-770.
  2. Autar, R. (2003). The management of deep vein thrombosis: The Autar DVT risk assessment scale re-visited. Journal of Orthopaedic Nursing, 7, 114-124.
  3. Feuchtinger, J. (2001). Wissenschaftliche Überprüfung der Messskala zur Einschätzung der Thrombosegefährdung. Pflege, 14, 47-57.
  4. Frowein, M (1997). Ein Score kann bei der Pflegeanamnese eingesetzt werden. Pflegezeitschrift, 50, 673-677.
  5. Gluud, C., Gluud, L.L. (2005). Evidence based diagnostics. British Medical Journal, 330, 724-726.
  6. Kümpel, Peter (1995). Thrombosegefährdung im Krankenhaus. Pflegezeitschrift, 48, 274-278.
  7. McCaffrey, R., Bishop, M., Adonis-Rizzo, M., Williamson, E., McPherson, M., Cruikshank, A., Jo Carrier, V., Sands, S., Pigano, D., Girard, P., Lauzon, C. (2007). Development and testing of a DVT risk assessment tool: providing evidence of validity and reliability. Worldviews on evidence-based Nursing, 4, 14-20.
  8. Meyer, G., Gellert, R. Schlömer, G., Mühlhauser, I. (2004). Thromboseprophylaxestrümpfe in der Chirurgie- optional oder obligat? Der Chirurg, 75, 45-58.
  9. Meyer, G., Köpke, S., Bender, R., Mühlhauser, I. (2005). Predicting the Risk of Falling - Efficacy of a Risk Assessment Tool compared to Nurses' Judgement: a cluster-randomised controlled trial [ISRCTN37794278]. BMC Geriatrics, 5, 14.
  10. Sackett DL, Haynes RB, Guyatt GH, Tugwell P (1991). Clinical epidemiology: A basic science for clinical medicine. Little, Brown and Company, Boston, Toronto, London.
  11. Wyatt, J., Altman, D. (1995). Prognostic models: clinically useful or quickly forgotten? British Medical Journal, 311, 539-541.

Weblinks