Selbstverletzendes Verhalten

Aus Familienwortschatz
(Weitergeleitet von Autoaggression)
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Als Selbstverletzendes oder autoaggressives Verhalten (Abk. SVV) wird die unmittelbare und absichtliche Verletzung des eigenen Körpers bezeichnet. Es handelt sich um eine Verhaltensauffälligkeit, die in leichter Form sehr häufig vorkommt, in schwereren Ausprägungen oft als Symptom psychischer Erkrankungen auftritt.

SVV ist abzugrenzen von Handlungen, die mit bewussten suizidalen Absichten ausgeführt werden, verbunden sind mit sexueller Erregung (Wichel u. Stanley, 1991), von Zwangserkrankungen, Sucht, sonstigem längerfristig schädigenden Verhalten, Selbstverstümmelung zum Zweck des Versicherungsbetrugs, der Hafterleichterung, Desertation etc.; möglich sind auch fließende Übergänge.

Häufigste Formen

  • Schneiden, Stechen oder "Ritzen" in die Haut mit scharfen/spitzen Gegenständen (nicht nur die "klassische" Rasierklinge, sondern auch weniger scharfe Messer, Scherben, Nadeln, Scheren etc.)
  • Schlagen, sowohl sich selbst mit den Händen/Fäusten z.B. ins Gesicht, als auch das Schlagen von Körperteilen gegen Wände oder Gegenstände
  • Beißen in Hände, Lippen oder andere Körperteile, auch das "Abnagen" von Haut (häufig an Lippen, Innenseite der Wangen, Fingerspitzen).
  • Verbrühen/Verbrennen mit heißer Flüssigkeit oder Gegenständen wie Zigaretten, Feuerzeug, Bügeleisen, etc.
  • Schlucken oder Injektion von krank machenden Substanzen (in Abgrenzung zu Drogenkonsum, s. a. Pica) oder Schlucken scharfer/spitzer Gegenstände
  • Verätzen mit Säuren, Laugen oder ähnlichen korrosiven Chemikalien

Wer macht es?

Selbstverletzendes Verhalten ist häufiger als man denkt - auch exzessives Nägelkauen, Herumkratzen an kleinen Wunden, extreme "Selbstüberwindung" beim Sport oder bei Diäten fallen im weiteren Sinn unter diese Bezeichnung. Viele Menschen kennen Verhaltensweisen, deren Reiz gerade in der unmittelbaren Spürbarkeit ihrer schädlichen Auswirkungen besteht.

Menschen, die sich selbst schwer verletzen, haben meist ein verändertes Körperschema. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist gestört; sowohl das Erscheinungsbild, die Wirkung auf andere, als auch der eigene Zustand und die Befindlichkeit (wohl, wach, gesund, warm und heil - oder nicht?) verschwimmen oder werden in die eine oder andere Richtung überzeichnet. Diese Menschen fühlen sich oft als Außenseiter und denken, dass sie anders als alle Menschen in ihrer Umgebung sind (soziale Isolation, s. a. Wahn).

Zudem ist die Impulskontrolle oft reduziert. Linehan (1993) fand heraus, dass die meisten SVVler ein stimmungsabhängiges Verhalten zeigen, in Übereinstimmung mit der Forderung ihres gegenwärtigen Gefühlszustandes handeln, anstatt längerfristige Wünsche und Ziele zu erwägen. Die Frustrations-/Deprivationsschwelle wird leicht überschritten; als Reaktion tritt depressives oder eben (auto-)aggressives Verhalten auf. Der Gemütszustand zum Zeitpunkt der Verstümmelung ist wahrscheinlich eine stark intensivierte Version einer lange bestehenden zugrunde liegenden Stimmung.

Es wurde herausgefunden, dass es zwei emotionale Hauptzustände gibt, die am häufigsten bei den Personen, die sich selbst verletzen, zum Zeitpunkt der Handlung vorhanden sind: Angst- und Ärgergefühle, die zudem seit längerer Zeit als Persönlichkeitsmerkmale bestehen.

Das Gesamtbild zeigt sich bei :

  • reduziertem Selbstwertgefühl: sich selbst nicht leiden können und verneinen, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten
  • niedriger Frustrationsschwelle: sehr empfindliche Reaktion auf Ablehnung, chronisch ärgerlich (meistens auf sich selbst)
  • reduzierter Impulskontrolle: Neigung, nach momentanen Stimmungslagen zu handeln
  • nicht realisierter Selbstwirksamkeit: sich selbst nicht als fähig erachten, mit Situationen und Emotionen umzugehen, eingeschränkte Möglichkeiten der Verarbeitung und Bewältigung, Gefühl der Machtlosigkeit
  • sozialer Isolation: Gefühl von Einsamkeit, sich emotional niemandem anvertrauen, sich auf niemanden verlassen können


häufige Diagnosen

Krankheitsbilder, bei denen selbstverletzendes Verhalten häufig auftritt - besonders bei der Neigung, diese Tendenzen zu unterdrücken (s. a. Unterbewusstsein):

Ursachen

Wie viele Verhaltensauffälligkeiten ist auch SVV meist auf Traumata in Kindheit und Pubertät zurückzuführen. Viele Opfer sexuellen Missbrauchs neigen dazu, vor allem zum "Schneiden" oder "Ritzen". "Vernachlässigung ist jedoch der stärkste Auslöser für SVV". (Linehan, 1993). Das bedeutet, dass zwar einschneidende Gewalt- oder Verlusterfahrungen häufig den Anlass oder Trigger (auslösender Impuls durch wiederholte Verletzung oder Erinnerung daran) für selbstverletzende Handlungen liefern. Es sind jedoch andauernde Deprivation, Geringschätzung und Unterversorgung, auf deren Boden SVV erst entstehen kann. Linehan (1993) spricht darüber, dass Menschen mit SVV in krankmachender Umgebung aufgewachsen sind. Sie sagt: " Eine Umgebung, in der der Mensch nicht geachtet wird, ist eine, welche persönliche Erfahrungen unstet, unangemessen oder extrem spiegelt. Das Formulieren von eigenen Erfahrungen ist nicht erwünscht. Anstatt dessen wird es oft bestraft oder ins Lächerliche gezogen."

Jeder Mensch erfährt Verletzungen/Missachtungen hin und wieder. Aber chronische Verletzung führt unweigerlich zu unbewusster Selbstmissachtung und Selbstzweifel: "Ich bin nichts wert!"

Auswirkungen

Neben den körperlichen Schädigungen, die teils schwer bis tödlich sein können, teils nur geringfügig sind und vollständig ausheilen können, kommt es durch SVV auch zu psychosozialen Beeinträchtigungen (Scham, Schuld, Stigmatisierung).

Für die Betroffenen hat jede selbstverletzende Handlung jedoch auch maßgebliche subjektiv positive Effekte:

  • Erleichterung z.B bei Angst, Wut, Schmerz, Trauer ("Dampf ablassen", Ablenkung)
  • Selbstwirksamkeit, Kontrolle und Macht durch deutliches Spüren der eigenen Handlung
  • Hilferuf, Versuch der Kommunikation über sichtbare körperliche Zeichen.

siehe auch