Theorie des systemischen Gleichgewichts

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Die Theorie des systemischen Gleichgewichts von Marie-Luise Friedemann als neuer Ansatz in der PflegeTheorie des systemischen Gleichgewichts

Marie-Luise Friedemann erarbeitete die Theorie des systemischen Gleichgewichts

Einleitung

Unter Einbezug der Erkenntnisse aus der Systemtheorie, der Geistes- und Gesundheitswissenschaften entwickelt Marie-Luise Friedemann die Theorie des systemischen Gleichgewichts. Sie eröffnet damit der Pflege einen neuen Zugang zur Familie und alternativen Formen des Zusammenlebens, denn in existentiell schwierigen und bedrohlichen Lebenssituationen sind solche Unterstützungsnetzwerke von großer Wichtigkeit.

Die familien- und umweltbezogene Pflege gibt Impulse für:

  • die Auseinandersetzung von Berufsanfängern in der Pflegepraxis bei der Pflege von Familien
  • die Orientierung von Fortgeschrittenen in der Pflegepraxis bei der Familienberatung und der interdisziplinären Zusammenarbeit
  • die gezielte Unterstützung von Lernenden durch Lehrkräfte in der Pflegebildung
  • Entwicklung und Durchführung familienbezogener Studien durch Pflegeforscher


Die Theorie des systemischen Gleichgewichts

Die Theorie der "Familien- und umweltbezogenen Pflege" hat sich systematisch entwickelt. Friedemann stellt auf der Basis ihrer Erfahrungen in der Gemeindepflege die Idee des systemischen Gleichgewichts vor. Indem sie sich zunächst mit dem Wandel von Familienstrukturen aus soziologischer Sicht auseinandersetzt, schafft sie ein Fundament für die Entwicklung ihrer Theorie. Sie erkennt die Notwendigkeit einer dieser Entwicklung folgenden Veränderung in der Pflege und Betreuung. Hier fließt auch der schrittweise Wechsel von der pathogenetischen zur salutogenetischen Sichtweise ein. Im Bemühen, ihre Theorie in die Praxis umsetzbar zu gestalten, führt sie beispielhaft Pflegesituationen auf, in denen sie Familienmitglieder in den Pflegeprozess integriert. In einem weitern Schritt stellt sie, wiederum anhand von Beispielen, Möglichkeiten für Pflegende heraus, Familien in umweltbedingten oder familiären Krisen zu begleiten.

Nachdem Marie-Luise Friedemann 1989 erste Artikel aus ihrer Theorie publizierte, erschien 1995 die erste Ausgabe des englischsprachigen Buches über die Theorie des systemischen Gleichgewichts. Ein Jahr später brachrte sie ein deutschsprachiges Buch, weitgehend auf europäischer Literatur basierend, heraus. Es stellt die Theorie einführend vor und verdeutlicht sie durch Beispiele aus der Krankenpflege.

  • So führt Friedemann im ersten Teil ihres Buches in die Theorie des systemischen Gleichgewichtes ein und zeigt auf, wie systemische Prozesse in Umwelt, Mensch, Gesundheit und Pflege integriert werden.
  • Im zweiten Teil des Buches setzt sie sich aus soziologischer Sicht mit Familienstrukturen und deren Wandel auseinander. Friedemann stellt fest, dass auch andere Formen des Zusammenlebens nicht auszuschließen sind.
  • Im dritten Teil gestaltet sie beispielhaft Pflegesituationen sowohl aus dem somatischen wie auch dem psychischen Bereich, in dem sie Familienmitglieder als Teil des Pflegeprozesses integriert.
  • Der vierte Teil greift Beispiele von Familien auf, die umweltbedingte oder familiäre Krisen erleben. Hier stellt sie die Möglichkeiten für Pflegende heraus, die Familie in solchen Krisen zun begleiten.
  • Die zweite Auflage des Buches wurde um ein fünftes Kapitel erweitert. Hier beleuchten neben Friedemann und Köhlen weitere Autorinnen den Transfer der Theorie in Praxis, Ausbildung und Forschung unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Raums. Christina Köhlen bearbeitet hier didaktische Prinzipien für die Fortbildung, wie die Selbstreflexion auf der Basis der Theorie des systemischen Gleichgewichts, dem Prinzip des theoriegeleiteten Pflegehandelns oder der zukunftsorientierten Umsetzung.

Marie-Luise Friedemann und Christina Köhlen betonen noch einmal deutlich im Rahmen einer "Familienorientierung" den Patienten und seine Familie als Subjekt in den Mittelpunkt von Betreuung und der Pflege zu stellen. Sie sehen den Patienten und seine Angehörigen als Ausgangspunkt und Initiator der Pflege.

In der Entwicklung der Theorie der "Familien- und umweltbezogenen Pflege" läßt sich eine kontinuierlicher strukturierter Aufbau unter Berücksichtigung erforderlicher Pardigmen erkennen.


Einfluss anderer Theorien und deren Auswirkungen

Hintergrund der Familien- und umweltbezogenen Pflege ist der systemische Ansatz. Dieser beruht laut Friedemann "auf gewissen Grundsätzen der Systemtheorie". In diesem Zusammenhang erwähnt sie, dass der Ursprung dieser Theorie mit Norbert Weinert (Kyernetiker), Talcot Parson (Soziologe) und Ludwig von Bertalanffy (Biologe) verbunden und deren Tätigkeitsfeldern maßgeblich verwurzelt ist. Im Vorwort erwähnt die Autorin außerdem, dass die Wurzeln der Theorie des systemischen Gleichgewichts bis in die psychoanalytischen bzw. psychosomatischen Theorien hineinreichen. Insbesondere verweist sie hier auf die Familientherapie und Carl Gustav Jung.


Konzepte der Familien- und umweltbezogenen Pflege

Die familien- und umweltbezogene Pflege orientiert sich wie alle konzeptuellen Modelle an den Metaparadigmen Umwelt, Mensch, Gesundheit und Pflege. Friedemann allerdings fügt die Konzepte Familie und Familiengesundheit hinzu, wodurch die Bedeutung der Familie für die Pflege explizit unterstrichen wird.


Propositionen zum Konzept Umwelt

Die Umwelt umschließt alle Systeme, die den Menschen und seine Familie umgeben. Dazu zählen z.B. politische und soziale Systeme, aber auch Gegenstände, Gebäude, Städte, Biosysteme bis hin zum Universum. Dieses ist allen anderen Systemen übergeordnet. Alles Lebende ist also eine Vernetzung von offenen Systemen, die untereinander durch Anpassung und Wiederanpassung nach Kongruenz bzw. Übereinstimmung streben.


Propositionen zum Konzept Mensch

Der Mensch definiert seine Identität über seine Beziehungen zu seiner Umwelt ( zu Mitmenschen, Gegenständen etc.). Menschliche Realität wird über die Funktionen seines Körpers bestimmt und ist deshalb eingeschränkt. Die Abhängigkeit von den Kräften der Natur macht ihn sensibel für systemische Störungen. Menschen können systemübergreifend handeln, um Kongruenz wiederherzustellen. Die Zivilisation mit ihren Systemen sichert den Menschen ab. Der Mensch ist bestrebt, ein sinnvolles und angstfreies Leben zu führen. Der wichtigste Prozess in der Theorie des systemischen Gleichgewichts ist es, Ängste abzubauen, da ein angstfreier Zustand essentiell für die Gesundheit ist. Der Mensch ist angstfrei, wenn sein System mit den Systemen seiner Umwelt harmonisiert (Kongruenz).

Das Diagramm des individuellen Systems und des Familiensystems

Die Ziele und Prozessdimensionen des menschlichen Systems zur Erreichung von Kongruenz werden in dem folgenden Diagramm veranschaulicht. Es stellt die Grundlage für die Umsetzung der Theorie in die Praxis dar. Es handelt sich um ein dynamisches Modell; es ist immer in Bewegung bei dem Streben nach Kongruenz.


Ziele des menschlichen Systems

Theorie des systemischen Gleichgewichts

Das menschliche Verhalten richtet sich auf vier Ziele: Stabilität, Regulation/Kontrolle, Wachstumm und Spiritualität. Sie dienen zur Bekämpfung von Angst (z.B. durch Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit) und zur Erhaltung des Systems.

Stabilität bekämpft Angst durch Erhaltung des Systems. Menschen wehren sich gegen Einflüsse, die ihre Stabilität verletzen könnten (z.B. bei Krankheit wird versucht, durch die Medizin den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen = Rückkopplungsprozess). Gelingt dies nicht, kann Kongruenz nur durch eine Umordnung der Werte und Prioritäten wieder hergestellt werden. Eine erfolgreiche Umorientierung führt zum Ziel des Wachstums. Wachstum geschieht anhand von neuen Erkenntnissen, z.B. im Umgang mit anderen Personen, durch Erziehung, durch Anpassung an neue Lebenssituationen. Wachstum schließt immer eine Änderung der Grundstruktur mit ein.

Regulation und Kontrolle erreicht der Mensch durch den Aufbau von Schutzsystemen, die das Überleben seiner Zivilisation sichern sollen (z.B. Verordnungen, Gesetze, Verkehrsnetz, Geburtenregelung).

Spiritualität ist eine Verbindung von zwei Systemen. Der Mensch verschafft sich inneren Frieden durch eine Verbindung zur Natur, zu Gott, zu Mitmenschen.


Prozessdimensionen des menschlichen Systems

Die menschlichen Handlungen zur Erreichung der oben genannten Ziele fallen in vier Dimensionen:

Systemerhaltung umfasst alle Handlungen, die auf Stabilität und Regulation/Kontrolle ausgerichtet sind. Friedemann bezieht sich hier auf Orem und spricht von Selbstpflegehandlungen, die dem körperlichen und geistigen Wohl dienen (z.B. Schlafen, Bewegung, Körperpflege, Freizeitgestaltung; Routinen, Rituale).

Systemänderung meint eine Werteänderung aufgrund neuer Erkenntnisse oder Rollen (z.B. Anerkennung fremder Lebensweisen, Befolgung neuer Regeln), die die Ziele der Regulation und des Wachstums anstreben.

Kohärenz drückt den Zusammenhang der menschlichen Subsysteme aus und umfasst alle Handlungen, die den Zielen von Spiritualität und Stabilität dienen. Durch erfolgreiche Kohärenzaktionen erlangt der Mensch ein Gefühl von Ganzheit, Selbstsicherheit und innneren Frieden. Kohärenzhandlungen sind z.B. Gedankenaustausch mit Anderen, Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse, sinnliche Lebensfreuden, Entspannung durch Aktivitäten, Akzeptanz eigener Schwächen. Kohärenz ist die Grundlage zur Individuation.

Individuation umfasst alle Aktivitäten, die das Verständnis erweitern und die Person selbst oder seine Mitmenschen fördert. Nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts werden Verbindungen mit anderen Systemen hergestellt. Das Individium muss in der Lage sein, sich nach außen zu öffnen; durch Bindungen mit anderen Systemen wächst sein Potential (z.B. soziale Aufgaben, Berufsausübungen, neue Erkenntnisse durch Reisen, Freundschaften, Partnerschaften).

Jeder gesunde Mensch muss Verhaltensweisen in allen Dimensionen entwickeln. Die beschriebenen Dimensionen beziehen sich auf den Einzelnen als auch auf die Familie. Nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts entsteht Kongruenz, wenn die vom Individium gesetzten Ziele im richtigen Ausmaß erreicht wurden. Das Diagramm ist dynamisch, d.h. Ziele und Prozessdimensionen sind keine festgelegten Größen, sondern sind abhängig von den einzelnen Individuen. Je nach Lebenslage wird das eine oder andere Ziel mehr oder weniger bedeutungsvoll. Die Aktivitäten innerhalb der Prozessdimensionen können sich verschieben (FRIEDEMANN, 2003, S. 20, S. 25 ff; KÖHLEN, 2004, S. 258 ff; FRIEDEMANN, 1992; FRIEBE, 1999, S. 145- 155).

Die Schweizerin Rigula Lüthi hat das Diagramm mit einfachen Worten beschrieben:

  • Kongruenz= Wohlfühlen/ Harmonie
  • Systemänderung= Ändern
  • Kohärenz= Zusammenleben/ Stimmigkeit
  • Individuation= Wer bin ich? Was will ich?
  • Systemerhaltung= Beibehalten
  • Spiritualität= Lebenssinn (FRIEDEMANN, 2003, S. 233)

Propositionen zum Konzept Gesundheit

Die Gesundheit des Menschen entsteht durch eine weitgehende Übereinstimmung aller Systeme, bzw. Kongruenz der Subsysteme und Kongruenz mit den Kontaktsystemen. Ein allgemeines Wohlbefinden kennzeichnet gute Gesundheit. Eine körperliche Krankheit wird durch eine Systemstörung des organischen Subsystem hervorgerufen. Gesundheit kann auch in einem Zustand von körperlicher Krankheit gefunden werden. Durch Systeminkongruenz entsteht Angst, die wiederum ein Symbol für fehlende Gesundheit ist.

Propositionen zum Konzept Familie

Die Familie ist ein System mit Subsystemen. Sie ist eine soziale Institution, die den größten Einfluss auf ihre Mitglieder hat. Sie wird als unabhängiges offenes System verstanden, das mit seiner Umwelt in Austausch steht. Familienmitglieder müssen nicht verwandt, aber in Beziehung sein und eine Familienrolle ausüben. Die Familie überliefert Werte und Lebensmuster (Kultur) an die nächste Generation. Sie unterstützt den Einzelnen, gibt ihm Halt durch emotionale Bindung. Familienprozesse sind kollektive Prozesse, sie streben ebenfalls über die vier Prozessdimensionen die Ziele Stabilität, Wachstum, Regulation (Sicherheit) und Spiritualität an. Anhaltende Inkronguenz kann Auslöser von Krankheit sein. Über Mitbestimmung und Verantwortung für einzelne Familienangehörige wird das Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt (Regulation/ Kontrolle). Tradition und Lebensmuster erhalten die Stabilität. Durch Interaktion mit der Umwelt wird aber auch das Ziel des Wachstums angestrebt. Neue Erfahrungen und neues Wissen wird überprüft und gegebenenfalls in der Familienstruktur verankert. Die Spiritualität ist ein wichtiger Teil der Familienkultur. Sie schützt vor Isolation, gibt Halt und ein Gefühl der Zugehörigkeit.

Propositionen zum Konzept Familiengesundheit

Eine Familie ist gesund, wenn in allen Prozessdimensionen gehandelt wird, wenn Kongruenz innerhalb der Familie und in Interaktion mit der Umwelt besteht. Die Mitglieder empfinden wenig Angst und sind zufrieden.

Propositionen zum Konzept Pflege

Die Pflege nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts ist gleich zu setzen mit der Pflege der systemischen Einheit Mensch, Familie und Umwelt. Pflege wird als Dienstleistung auf allen Systemebenen verstanden (Individuum, Familie, Interaktionssysteme, Gemeinden). Die Pflege des Individuums schließt die Familie und die Umweltsysteme mit ein; die Pflege der Familie schließt die Individuen und ihre Subsysteme mit ein. Das Ziel der Pflege ist es, Prozesse aufzuzeigen, die dem System das Streben nach Kongruenz erleichtern (ressourcenorientierte Pflege). Pflege wird nicht verabreicht, sondern ausgehandelt und besprochen. Die Pflege der Familie betrifft ein soziales System als Pflegeempfänger. Durch eine bessere Familienkongruenz werden auch die einzelnen Familienmitglieder Gesundheit finden. Nach der Theorie des systemischen Gleichgewichts liegt der Grund in der Vernetzung der Einzelnen untereinander (FRIEDEMANN. 2003, S. 34 ff; FRIEDEMANN 1992, S. 193 ff, KÖHLEN, 2004, S: 258 ff).

Literatur

Bücher:

  • Marie-Luise Friedemann / Christina Köhlen - "Familien- und umweltbezogene Pflege", 2003 Verlag Hans Huber, ISBN 3-456-83671-6
  • Katarina Planer - "Haus- und Wohngemeinschaften - Neue Pflegekonzepte für innovatrive Versorgungsformen", 2010 Verlag Hans Huber, ISBN 978-3-456-84797-9

Zeitschriften:

Weblinks