Nichtsesshaftigkeit

Aus Familienwortschatz
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Die Bezeichnung Nichtsesshaftigkeit war bis zu Beginn des letzten Jahrzehnts zur Benennung einer wohnungslosen Lebenslage in allgemeinen Gebrauch. Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts stand der Begriff 'Nichtsesshaftigkeit' oder die Bezeichnung von Personen ohne Wohnung als 'Nichtsesshafte' in der Fachöffentlichkeit unter zunehmender Kritik. Grund für diese Kritik hierfür ist zum einen die einseitige Ausrichtung auf die individuellen Defizite der betroffenen Personen. Zudem suggeriert die Bezeichnung Wohnungslosigkeit, dass es sich bei den Betroffenen um eine klar eingrenzbare Personengruppe mit einer spezifischen Lebensweise handelt. Hingegen bleiben die durch die Armut verursachten Problemlagen dieser faktisch vielschichtigen Gruppe von Betroffenen zur Erklärung von Nichtsesshaftigkeit weitgehend unberücksichtigt. Eine weiteren Grund für die Verwerfung der Bezeichnung wohnungsloser Menschen als ‚Nichtsesshafte’ stellt deren Entstehungsgeschichte dar:

1920 – 1933: Der Wanderer als Psychopath

Seit den Anfangsjahren des letzten Jahrhunderts befassten sich Praktiker der Wanderfürsorge und Wissenschaftler (vorwiegend Psychiater) theoretisch mit dem Phänomen der Bevölkerungsschichten ohne festen Wohnsitz. Die durch die Wirtschaftskrise der ersten Nachkriegszeit verursachte hohe Arbeitslosigkeit setzte eine hohe Zahl von wandernden Arbeitssuchenden frei. Schon bald setzten Versuche der Wanderfürsorge ein, arbeitsfähige bzw. arbeitswillige von arbeitsunfähigen resp. arbeitsunwilligen Klienten zu unterscheiden. Vor allem das nach heutigen wissenschaftlichen Maßstäben empirisch nicht belegbare 'Psychopathiekonzept’ bewirkte die wachsende Entwürdigung und Entmenschlichung wohnungsloser Personen. Dabei wurde den Betroffenen eine erbliche Persönlichkeitsstörung, die sich vor allem als pathogener Wandertrieb und Willensunfähigkeit manifestiert, unterstellt: Aus armen Arbeit suchenden Wanderern wurden triebhafte Wanderer auf Grund persönlichen Defizite.

1933 – 1945: Der nichtsesshafte Mensch als Untermensch und Volksschädling

In der Zeit des Nationalsozialismus erhielt die Bezeichnung von Wanderern, Vagabunden oder Landstreichern als ‚Nichtsesshafte’ seine volle Ausformung. Grundlage hierfür war das vom bayerischen Landesverband für Wanderdienst herausgegebene Standartwerk „Der nichtsesshafte Mensch“. Wohnungslosen Menschen sprach man in diesem Zusammenhang jegliche Menschenwürde ab. Sie wurden als Volksschädlinge deklariert und waren deshalb lebensunwürdig. Folge dieser Umwertung vom Wanderer zu Nichtsesshaften war die Verfolgung, Sterilisation und Vernichtung der Betroffenen.

1945 – 1970: Der nichtsesshafte Mensch als negative Ausnahmeerscheinung und abnorme Persönlichkeit

Mit dem Sieg über den nationalsozialistischen Terror in Europa endete auch die lebensgefährliche Verfolgung nichtsesshafter Menschen. Ein Umdenken hinsichtlich des Verständnisses der Ursachen einer nichtsesshaften Lebenslage erfolgte im eigentlichen Sinne nicht. Vielmehr knüpfte man vorbehaltlos inhaltlich wie personell an die Tradition der Wanderfürsorge vor 1933 an und kehrte zu den gängigen Erklärungsmodellen zurück. Nach der in den ersten Nachkriegsjahren anfänglichen Massenarmut und der durch die Kriegszerstörungen Wohnraumberaubten sah man mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstand die Ursachen einer nichtsesshaften Lebenslage fast ausschließlich in den individuellen Defiziten der Betroffenen. Vor allem in den Zeiten der nahezu Vollbeschäftigung galten nichtsesshafte Personen als negative Ausnahmeerscheinungen und abnorme Persönlichkeiten im gesellschaftlichen Zusammenleben. Den durch eine nichtsesshafte Lebenslage Betroffenen wurden durch Funktionäre, Praktiker und Wissenschaftler im Hilfesystem Arbeitsscheu, Bindungsunfähigkeit und den Mangel an innerer Festigkeit unterstellt. In diesem Zusammenhang wurden im 1961 verabschiedenden BSHG Nichtsesshafte der Personengruppe der ‚Gefährdeten’ (§72) zugeordnet, die innerer Führung, Kontrolle und bei Normabweichungen Verfolgung und Bestrafung bedürfen.

1970 - 2005: Vom nichtsesshaften zum wohnungslosen Menschen

Die in den Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts eingeleitete Strafrechts- und Sozialreformen sowie der Bedeutungszuwachs sozialpädagogischer Konzepte und sozialwissenschaftlicher Erklärungsmodelle bewirkte einen Wandel im Verständnis der Nichtsesshaftenhilfe. Durch die einsetzende Massenarbeitslosigkeit und die Zunahme der Zahlen nichtsesshafter Menschen, kamen soziale Faktoren als Ursache einer nichtsesshaften Lebenslage vermehrt zum Tragen. Die einseitige Betrachtung der individuellen Defizite nichtsesshafter Menschen erfuhr hingegen zunehmende Kritik. Die Bedeutung der sozialen Faktoren fand auch im Sozialrecht ihren Niederschlag: Mit der 1974 erfolgten Reform des § 72 BSHG, wurde die Bezeichnung der betroffenen Personengruppen als ‚Gefährdete auf Grund des Mangels an innerer Festigkeit’ durch Bezeichnung als ‚Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten’ ersetzt. In den achtziger Jahren stellte man den Begriff Nichtsesshaftigkeit grundsätzlich in Frage. In Folge dessen gewannen die Bezeichnungen als wohnungslose, wohnsitzlose oder obdachlose Menschen sukzessiv an Bedeutung. Sie stellen eine Sammelbeschreibung einer heterogenen Personengruppe dar, dessen Problemlage teils stark variiert. Ein gemeinsames Merkmal dieser vielschichtigen Bevölkerungsgruppe stellt die sozioökonomische Armut dar, welche sich in einer Form von Wohnungslosigkeit manifestiert.

1991 änderte die ‚Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtsesshaftenhilfe’ ihren Namen um in die Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe. Die Bezeichnung ‚Nichtsesshaftigkeit’ wird im Fachgebrauch des Hilfesystems nicht mehr verwendet. Das BSHG unterschied hingegen weiterhin zwischen nichtsessenhaften, welche in den Zuständigkeitsbereich der überörtlichen Träger fallen und obdachlosen Personen, für welche die örtlichen Träger der sozialen Sicherung und Hilfe die Zuständigkeit tragen.

In der Überführung des Bundessozialhilfegesetzes in das 2005 in Kraft getretene SGB XII wird der Begriff Nichtsesshaftigkeit offiziell nicht mehr erwähnt.

Literatur

  • Bayerischer Landesverband für Wanderdiest (Hrg): Der nichtsesshafte Mensch - Ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im Großdeutschen Reich, Verlag C.H. Beck, München (1938)
  • Holtmannspötter Heinrich: Von „Obdachlosen“, „Wohnungslosen“, und „Nichtsesshaften“, in: Auf die Straße entlassen, Institut für kommunale Psychiatrie (Hrg.), Psychiatrieverlag, Bonn (1996)
  • Scheffler Jürgen (Hrg.): Bürger & Bettler – Materialien und Dokumente zur Geschichte der Nichtsesshaftenhilfe in der Diakonie (Bd. 1), VSH Verlag Soziale Hilfe, Bielefeld (1987)
  • v. Treuberg Eberhard: Mythos Nichtsesshaftigkeit - Zur Geschichte des wissenschaftlichen, staatlichen und privatwohltätigen Umgangs mit einem diskriminierten Phänomen, VSH Verlag Soziale Hilfe, Bielefeld (1989)