Literaturarbeit:SGB IX - Ziele und Umsetzungsstand
Literaturarbeit: "SGB IX - Ziele und Umsetzungsstand" von Frank Haastert, 2005
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Einführung
Bis zur Einführung des SGB IX im Jahr 2001 war das Rehabilitationsrecht in Deutschland durch seine geschichtliche Entstehung geprägt: Unübersichtlich und unkoordiniert. [1]
Geschichtlicher Hintergrund
- 1884: Unfallversicherungsgesetz
- 1889: Erweiterung des Rentenversicherungsgesetzes um den Grundsatz: Rehabilitation vor Rente
- 1919: Reichsverordnung über die soziale Kriegsbeschädigten- und Hinterbliebenenfürsorge (u.a. Verpflichtung der Arbeitgeber zur Beschäftigung Schwerbeschädigte - zunächst der Kriegs- und Unfallopfer)
- 1927: gesetzlich geregelte Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
- 1974: Gesetz zur Weiterentwicklung des Schwerbehindertenrechts
- 1974: Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation
- 1975:Aufnahme des „sozialen Rechts“ zur Eingliederung behinderter Menschen im Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuchs
- 1994: Ergänzung des Artikel 3 Abs. 3 Grundgesetz um Satz 2: “Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.”
Abbildung 1: Historische Entwicklung
Wesentliche rechtliche Weiterentwicklungen fanden in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts sowie 1994 statt.[2]
Im Gegensatz zum 1994 eingeführten SGB XI beinhaltet das SGB IX keinen neuen Sozialversicherungszweig mit neuen zusätzlichen Beitragssätzen. Auch wird der Begriff „Behinderung“ im Gegensatz zum Begriff „Pflegebedürftigkeit“ nicht erstmalig sozialrechtlich definiert.[3]
Doch was sind die Ziele des SGB IX?
- Umsetzung des Benachteiligungsverbot des Artikels 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes im Bereich der Sozialpolitik.
- Beendung der Divergenz und Unübersichtlichkeit des bestehenden Rehabilitationsrechtes.
- Errichtung einer gemeinsame Plattform, auf der durch Koordination, Kooperation und Konvergenz ein gemeinsames Recht und eine einheitliche Praxis der Rehabilitation und der Behindertenpolitik errichtet werden können.
- Organisierung eines bürgernahen Zugangs und die Erbringung von Leistungen.
- Errichtung von Strukturen für die Zusammenarbeit von Leistungsträgern, Leistungserbringern und Leistungsempfängern.
- Steuerung der Leistungen der Rehabilitation und der Eingliederung behinderter Menschen unter Sicherung von Qualität und Effizienz.[4]
Insgesamt werden in der amtlichen Begründung zum „Entwurf eines Sozialgesetzbuchs – Neuntes Buch – (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ 13 inhaltliche Schwerpunkte beschrieben:[5]
- Teilhabe an der Gesellschaft
- Unmittelbar geltendes Recht
- Einbeziehung der Träger der Sozialhilfe und der Träger der Jugendhilfe
- Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten, Persönliches Budget
- Rasche Zuständigkeitsklärung
- Koordination der Leistungen und Kooperation der Leistungsträger
- Besondere Bedürfnisse und Probleme behinderter Frauen und Kinder
- Trägerübergreifende Qualitätssicherung
- Vorrang von Leistungen zur Teilhabe, psychologische und pädagogische Hilfen, stufenweise Wiedereingliederung
- Ambulant vor stationär
- Arbeitsassistenz
- Gebärdensprache
- Einbeziehung des Schwerbehindertenrechts
In dieser Arbeit wird es nicht möglich sein, alle 13 Schwerpunkte darzustellen. Von daher werden in einem ersten Schritt wesentliche Begrifflichkeiten des Gesetzes dargestellt. In einem zweiten Schritt wird darauf aufbauend die weiterhin rechtliche Komplexität am Beispiel der „Medizinischen Rehabilitation“ sowie am Beispiel „Behinderter Senioren“ dargestellt und diskutiert.
Allgemeine Regelungen des SGB IX
§ 1 SGB IX bestimmt die Ziele des Gesetzes: Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen
- erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen,
- um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.
- Dabei wird den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder Rechnung getragen.
Wer als Behindert oder von Behinderung bedroht gilt, wird in § 2 näher bestimmt. § 2 Abs. 1 SGB IX: Menschen sind behindert, wenn
- ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit
- mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen
- und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
- Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
§ 2 Abs.1 S.1 SGB IX orientiert sich bei der gesetzlichen Definition von Behinderung somit an die „internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung“ (ICIDH-2).[6]
§ 2 Abs. 2 SGB IX: Menschen sind im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn
- bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt
- und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
Nur wer die Bedingungen des § 2 SGB IX erfüllt, hat Anspruch auf Leistungen nach § 1 SGB IX.
In § 4 Abs. 1 SGB IX werden der Umfang und die Ziele von Leistungen zur Teilhabe näher bestimmt: Die Leistungen zur Teilhabe umfassen die notwendigen Sozialleistungen, um unabhängig von der Ursache der Behinderung
- die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,
- Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern,
- die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder
- die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern.
Somit ist klargestellt, dass Menschen mit Behinderung nach § 2 SGB IX Anspruch auf Leistungen nach § 4 SGB IX haben. In § 4 Abs. 2 SGB IX wird des weiteren klargestellt, dass diese Leistungen neben anderen Sozialleistungen erbracht werden.
In § 5 SGB IX werden die Leistungsgruppen zur Teilhabe bestimmt:
- Leistungen zur medizinischen Rehabilitation,
- Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben,
- unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen,
- Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
Des weiteren werden in § 6 SGB IX die Rehabilitationsträger und deren Zuständigkeit aufgelistet.
Leistung zur | Träger |
Medizinischen Rehabilitation | UV, Soziale Entschädigung, KV, RV, Jugendhilfe, Sozialhilfe |
Teilhabe am Arbeitsleben | UV, Soziale Entschädigung, RV, Bundesargentur für Arbeit, Grundsicherung für Arbeitssuchende, Jugendhilfe, Sozialhilfe |
Medizinischen Rehabilitation | UV, Soziale Entschädigung, KV, RV, Jugendhilfe, Sozialhilfe |
Abbildung 2: Leistungsträger und Zuständigkeit[7]
Die Abbildung 2 verdeutlicht die rechtliche Komplexität des SGB IX. So sind für eine Leistungsgruppe unterschiedliche Rehabilitationsträger zuständig. Hinzu kommt die Bestimmung des § 4 Abs. 2 S. 2 SGB IX, wonach die Leistungsträger die Leistungen im Rahmen der für sie geltenden Rechtsvorschriften nach Lage des Einzelfalls so vollständig, umfassend und in gleicher Qualität erbringen, dass Leistungen eines anderen Trägers möglichst nicht erforderlich werden.
Zwei wesentliche Ziele des Gesetzes sind die Organisierung eines bürgernahen Zugangs und die Erbringung von Leistungen sowie die Errichtung von Strukturen für die Zusammenarbeit von Leistungsträgern, Leistungserbringern und Leistungsempfängern. Um diese Ziele zu erreichen, bilden Servicestellen nach den §§ 22 – 25 SGB IX ein gewichtiges Instrument im Sinne des Gesetzes.
In § 22 Abs. 1 SGB IX werden die wesentlichen Aufgaben der Servicestellen näher bestimmt:[8]
- Beratung und Unterstützung von behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen, ihren Vertrauenspersonen und Personensorgeberechtigten nach § 60, insbesondere:
- Klärung der Leistungsvoraussetzungen und Leistungen der Rehabilitationsträger,
- Klärung des persönlichen Bedarf an Rehabilitationsleistungen,
- Mithilfe bei der Antragstellung inkl. Weiterleitung an den zuständigen Rehabilitationsträger.
§ 23 Abs. 1 SGB IX legt fest, dass die Servicestellen von den Rehabilitationsträger eingerichtet und unterhalten werden müssen. Wichtig ist dabei, dass in allen Landkreisen und kreisfreien Städten gemeinsame Servicestellen bestehen müssen. Diese Vorgabe wurde auch vollständig umgesetzt. Das Problem ist jedoch, dass diese zu wenig bekannt sind und daher von den Betroffenen nur in geringem Maße in Anspruch genommen werden.[9]
§ 23 Abs. 3 SGB IX regelt die Ausstattung der Servicestellen: Die Ausstattung beinhaltet demnach die umfassende und qualifizierte Erfüllung ihre Aufgaben, Nicht-Bestehen von Zugangs- und Kommunikationsbarrieren und Vermeidung von Wartezeiten. Hierfür wird besonders qualifiziertes Personal mit breiten Fachkenntnissen insbesondere des Rehabilitationsrechts und der Praxis eingesetzt. Näheres wird in der „Rahmenempfehlung zur Einrichtung trägerübergreifender Servicestellen für Rehabilitation vom 24. April 2001“ bestimmt.[10] Diese gesetzliche Vorgabe wird bisher nur unzureichend von den Rehabilitationsträgern umgesetzt. Es mangelt an:[11]
- usreichender Qualifikation der Mitarbeiter,
- einheitlichen Öffnungszeiten,
- gemeinsamen Absprachen zur Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden.
Leistungen der Medizinischen Rehabilitation
§ 26 Abs. 1 SGB IX regelt die Ziele der Medizinischen Rehabilitation: Zur medizinischen Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen werden die erforderlichen Leistungen erbracht, um
- Behinderungen einschließlich chronischer Krankheiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, eine Verschlimmerung zu verhüten oder
- Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit und Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern.
Um die festgelegten Ziele zu erreichen bestimmt § 26 Abs. 2 SGB IX nicht abschließend den Umfang der Leistungen:
- Behandlung durch Ärzte, Zahnärzte und Angehörige anderer Heilberufe, soweit deren Leistungen unter ärztlicher Aufsicht oder auf ärztliche Anordnung ausgeführt werden, einschließlich der Anleitung, eigene Heilungskräfte zu entwickeln,
- Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder,
- Arznei- und Verbandmittel,
- Heilmittel einschließlich physikalischer, Sprach- und Beschäftigungstherapie,
- Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung,
- Hilfsmittel,
- Belastungserprobung und Arbeitstherapie.
Die Auflistung verdeutlicht, dass es sich bei den Leistungen um weniger rehabilitationsspezifische Leistungen handelt. Die meisten Leistungen sind deckungsgleich mit Leistungen zur Krankenbehandlung nach dem SGB V.[12] Hinzu kommt, dass die Krankenkassen lediglich ein möglicher Rehabilitations-träger im Rahmen der medizinischen Rehabilitation nach § 6 Abs. 1 SGB IX darstellt. Sollte sich die Krankenkasse in einem konkreten Fall als zuständiger Träger herausstellen, so muss die Leistung nach § 4 Abs. 2 S. 2 SGB IX im Rahmen der für sie geltenden Rechtsvorschriften erbracht werden – also nach den Bestimmungen des SGB V und IX.
§ 11 Abs. 2 S. 1 SGB V bestimmt die Leistungsart „Medizinische Rehabilitation“ im Krankenversicherungsrecht:
- „Versicherte haben auch Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern.“
Satz 3 ergänzt den Umfang der Leistung:
- „Die Leistungen nach Satz 1 werden unter Beachtung des Neunten Buches erbracht, soweit in diesem Buch nichts anderes bestimmt ist.“
Im SGB V finden sich eine Vielzahl von Vorschriften, die von den Krankenkassen als Rehabilitationsträger nach dem SGB IX beachten müssen, so beispielsweise:
- § 31 SGB V: Arznei- und Verbandmittel
- § 32 SGB V: Heilmittel
- § 33 SGB V: Hilfsmittel
- § 43 SGB V: Leistungen zur medizinischen Rehabilitation
- § 44 SGB V: Medizinische Rehabilitation für Mütter und Väter.
Des weiteren existiert inzwischen eine „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Rehabilitations-Richtlinien) in der Fassung vom 16 März 2004“.[13] Diese Richtlinie ist gemäß § 92 SGB V für die Leistungsträger und -erbringer verbindlich.
Wie schon erwähnt, ist die Krankenkasse nicht der einzige mögliche Rehabilitationsträger für die „Medizinische Rehabilitationsleistung“. Jeder mögliche Träger muss sein spezifisches Leistungsrecht bei der Übernahme der Leistung berücksichtigen. In Zeiten knapper Kassen führt dies schnell zum Streit zwischen den Kostenträgern zur Kostenzuständigkeit.[14] Hinzu kommt, das der Behinderte die Selbstkostenbeteiligung bei Leistungen beispielsweise nach dem SGB V beachten muss.[15]
Die rechtliche Komplexität der „Medizinischen Rehabilitation“ verdeutlicht die Bedeutung der Servicestellen im Sinne des SGB IX. Die Mitarbeiter müssen durch ihre Qualifikation in der Lage sein, Hilfesuchende sicher durch dieses rechtliche Dickicht zu lotsen.
Ergänzend sieht das SGB IX in § 14 ein Verfahren zur Zuständigkeitserklärung vor. Eine zentrale Aussage findet sich in § 14 Abs. 1 S. 1: Innerhalb von 14 Tagen nach Eingang des Antrags stellt der Träger seine Leistungszuständigkeit fest. Ist diese nicht gegeben, so leitet dieser den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger zu. Dieser muss über den Antrag entscheiden! Es existieren eine Reihe von Ausnahmeregelungen für die Fristen und weitere Verfahrensregeln, die jedoch weitestgehend zwischen den verschiedenen möglichen Rehabilitationsträger ausgeglichen werden sollen. D.h., der Antragsteller soll schnellstmöglich einen Bescheid und die im zu-stehenden Rehabilitationsleistungen erhalten
Dennoch sieht § 15 SGB IX den Fall vor, dass der Antrag nur unzureichend bearbeitet wurde mit der Folge, das Leistungsberechtigte dem Rehabilitationsträger eine angemessene Frist setzen und dabei erklären können, dass sie sich nach Ablauf der Frist die erforderliche Leistung selbst beschaffen. Aber auch hier gibt es Ausnahmen.
Untersuchungen haben gezeigt, das sich durch die Regelungen des § 14 SGB IX die Bearbeitungszeiten und somit die Wartezeiten auf Rehabilitationsleistungen für die Antragssteller tatsächlich verkürzt haben. Es muss jedoch auch kritisch angemerkt werden, dass die gesetzlichen Regelungen des § 14 noch nicht überall eingehalten werden.[16]
Grundsatz: Rehabilitation vor Pflege
In § 8 Abs. 3 SGB IX wird der Grundsatz der Rehabilitation vor Pflege festgelegt: „Absatz 1 ist auch anzuwenden, um durch Leistungen zur Teilhabe Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten.“
Dieser Grundsatz findet sich auch im §§ 11 Abs. 2 und § 23 Abs. 1 Nr. 4 SGB V wieder. So haben u.a. Versicherte „Anspruch auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verbands-, Heil- und Hilfsmittel, wenn diese notwendig sind, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.“
Allerdings wird in § 11 Abs. 2 S. 2 SGB V eine wesentliche Einschränkung ge-macht: „Leistungen der aktivierenden Pflege nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit werden von den Pflegekassen erbracht.“ Dies bedeutet eine Zuständigkeitsverschiebung der Leistungsträger bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI.[17] Dies hat u. a. Einfluss auf die Abgrenzung von Pflegehilfsmitteln und Hilfsmitteln und der damit verbundenen Kostenzuständigkeit von Kranken- oder Pflegekassen.[18]
Im übrigen wird auch in § 5 SGB XI der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ festgeschrieben, allerdings ohne Nennung konkreter Durchsetzungsinstrumente für die Pflegekassen. § 5 Abs.1 SGB XI: „Die Pflegekassen wirken bei den zuständigen Leistungsträgern darauf hin, dass frühzeitig alle geeigneten Leistungen der Prävention, der Krankenbehandlung und zur medizinischen Rehabilitation eingeleitet werden, um den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.“ § 5 Abs.2 SGB XI: „Die Leistungsträger haben im Rahmen ihres Leistungs-rechts auch nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit ihre Leistungen zur medizini-schen Rehabilitation und ergänzenden Leistungen in vollem Umfang einzusetzen und darauf hinzuwirken, die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern sowie eine Verschlimmerung zu verhindern.“
Das die Anzahl der Pflegebedürftigen im Sinne des SGB XI auch in der Gruppe der behinderten Menschen in der Zukunft verstärkt zunehmen wird, verdeutlichen folgende Zahlen:
Alter von bis unter Jahren | insgesamt |
35-45 | 476.492 |
45-55 | 770.516 |
55-60 | 568.325 |
60-62 | 319.984 |
62-65 | 596.952 |
65 und mehr | 3.425.552 |
Abbildung 3: Alter und Geschlecht schwerbehinderte Menschen am 31. Dezember 2003[19]
Diese Zahlen erfassen nur die Anzahl der schwerbehinderten Menschen. Offizielle Statistiken über die Anzahl von behinderten Menschen nach dem SGB IX existieren nicht.
Etwa 140 000 behinderte Menschen leben in vollstationären Einrichtungen der Hilfe für behinderte Menschen. Davon erhalten schon heute ca. 60 000 pflege-bedürftige BewohnerInnen Leistungen nach § 43a SGB XI.[20]
Insgesamt wird deutlich, das dem Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ nach dem SGB V, IX und XI aufgrund der Entwicklung der Altersstruktur in der Gruppe der behinderten Menschen und der damit verbundenen Wahrscheinlichkeit der Pflegebedürftigkeit eine große Bedeutung zukommt. Daher ist damit zu rechnen, dass sich die Aufteilung des Sozialrechts nach verschiedenen Zuständigkeitsbereichen (Leistungen zur Teilhabe sowie Pflege- und/oder Krankenversicherungsleistungen) eher hinderlich denn als dienlich erweisen wird.
Ein erster Versuch zur Überwindung der verschiedenen Zuständigkeitsbereiche nach Leistungsträger bildet das trägerübergreifende Budget nach § 17 Abs. 2 SGB IX. Demnach können
- auf Antrag Leistungen zur Teilhabe auch durch ein Persönliches Budget ausgeführt werden,
- um den Leistungsberechtigten in eigener Verantwortung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
- Bei der Ausführung des Persönlichen Budget sind nach Maßgabe des individuell festgestellten Bedarfs die Rehabilitationsträger, die Pflegekassen und die Integrationsämter beteiligt.
- Das Persönliche Budget wird von den beteiligten Leistungsträgern trägerübergreifend als Komplexleistung erbracht.
Neben den Leistungen zur Teilhabe nach dem SGB IX sind laut § 17 Abs. 2 S. 4 SGB IX auch erforderliche Leistungen der Krankenkassen und der Pflegekassen, Leistungen der Träger der Unfallversicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe, die sich auf alltägliche und regelmäßig wiederkehrende Bedarfe beziehen und als Geldleistungen oder durch Gutscheine erbracht werden können, budgetfähig.
Es wird der „Kundengedanke“ hier erkennbar: Der Leistungsempfänger soll mit Hilfe des persönlichen Budget unabhängig vom Leistungsträger seinen Hilfebedarf bei den Leistungserbringern einkaufen können. Es stellt sich jedoch die kritische Frage, bis zu welchem Grad dies möglich sein wird. Es darf nicht ver-gessen werden, dass Menschen aufgrund ihrer Behinderung und/oder Pflegebedürftigkeit und den damit verbundenen alltäglichen Einschränkungen dem besonderen gesetzlichen und gesellschaftlichen Schutz bedürfen.[21]
Fazit
Das SGB IX beinhaltet kein eigenständiges Leistungsrecht für behinderte oder von Behinderung bedrohten Menschen, sondern führt die verschiedenen sozialrechtlichen Leistungen nach SGB V, VII, XII usw. zusammen. Das SGB IX hat somit eine „Klammerfunktion“.
Von daher verwundert es auch nicht, dass seit dem Bestehen des Gesetzes kaum Veränderungen vorgenommen bzw. diskutiert wurden. Vielmehr haben Gesetzesvorhaben beispielsweise im Bereich des Kranken-, Pflege oder Sozi-alhilferechts direkte Auswirkungen auf die Leistungen zur Teilhabe nach dem SGB IX.
Dennoch stellt das SGB IX nicht zuletzt wegen dem Ziel des vereinheitlichten Verfahrens mit Hilfe von Servicestellen einen wesentlichen Meilenstein im Sozi-alrecht für die betroffenen Menschen dar.
Es bleibt abzuwarten, wie in Zukunft nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Dis-kussionen zur Reform des deutschen Sozialstaats sich das SGB IX weiterentwickeln wird.
Literatur
- Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation: Rahmenempfehlung zur Ein-richtung trägerübergreifender Servicestellen für Rehabilitation vom 24. April 2001. In: http://www.sgb-ix-umsetzen.de/index.php/nav/tpc/nid/1/aid/52 [16.10.2005].
- Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.): SGB IX. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Bonn, 2005.
- Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.): Re-habilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Bonn, 2005.
- Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.): Rat-geber für behinderter Menschen. Bonn, 2005.
- Deutscher Bundestag: Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Entwurf eines Sozialgesetzbuchs – Neuntes Buch – (SGB IX) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Deutscher Bundestag – Drucksache 14/5074 vom 16.01.2001.
- Deutscher Bundestag: Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe. Deutscher Bundestag – Drucksache 15/4574 vom 16.12.2004.
- Gemeinsamer Bundesausschuss: Richtlinie des Gemeinsamen Bundesaus-schusses über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Rehabilitations-Richtlinien) nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 in der Fassung vom 16 März 2004, Veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 63 (S. 6769) vom 31. März 2004, in Kraft getreten am 1. April2004. In: http://www.vdak.de/reha_rili.htm [16.10.2005].
- Haastert, F.: Pflegeversicherung und Demenz – wohin entwickelt sich die Pflegeversicherung? In: PrInterNet, 10/05, S. 542-548.
- Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung e.V. (Hrsg.): Das Pflege-budget. Ein neues Angebot der Pflegeversicherung. o. J. In: www.pflegebudget.de (16.10.2005).
- Wiese, U. E.: Rechtliche Qualitätsvorgaben in der stationären Altenpflege. Leit-faden durch den Gesetzesdschungel. München, Jena, 2005.
Abkürzungsverzeichnis:
Abs. = Absatz
BT.-Drs. = Deutscher Bundestag – Drucksache
f. = folgende
ff. = fortlaufend folgend
KV = Krankenversicherung
m. w. N. = mit weiteren Nachweisen
Nr. = Nummer
RV = Rentenversicherung
S. = Satz/Seite
SGB = Sozialgesetzbuch
u. a. = unter anderem
UV = Unfallversicherung
Vgl. = Vergleich/vergleiche
z. B. = zum Beispiel
Fußnoten
- ↑ Vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 94.
- ↑ Für weiterführende Informationen siehe Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, Bonn, 2005, S. 47 ff.
- ↑ Vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 98.
- ↑ Vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 92.
- ↑ Vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 94-98.
- ↑ Vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 98.
- ↑ Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, Bonn, 2005, S. 8.
- ↑ Diese Auflistung ist nicht abschließend.
- ↑ Vgl. BT-Drs. 15/4575, S. 3.
- ↑ Im Internet online einsehbar unter http://www.sgb-ix-umsetzen.de/index.php/nav/tpc/nid/1/aid/52 [16.10.2005].
- ↑ Vgl. BT-Drs. 15/4575, S. 3.
- ↑ Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, Bonn, 2005, S. 18.
- ↑ Im Internet einsehbar unter: http://www.vdak.de/reha_rili.htm [16.10.2005].
- ↑ Vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 26.10.2004, B 7 AL 16/04 R.
- ↑ Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ratgeber für behinderte Menschen, Bonn, 2005, S. 17 ff.
- ↑ Vgl. BT-Drs. 15/4575, S. 3.
- ↑ Zur Problematik des Pflegebedürftigkeitsbegriffs siehe u.a. Haastert, Pflegeversicherung und Demenz - wohin entwickelt sich die Pflegeversicherung, 2005, S. 543 f.
- ↑ Siehe hierzu die Ausführungen in Wiese, Rechtliche Qualitätsvorgaben in der stationären Altenpflege, 2005, Kapitel 2 m.w.N.
- ↑ Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Rehabilitation und Teilhabe be-hinderter Menschen, Bonn, 2005, S. 4.
- ↑ Vgl. BT-Drs. 15/4575, S. 145.
- ↑ Siehe zum persönlichem Budget weiterführende Berichte zum Modellprojekt Pflegebudget, im Internet online unter www.pflegebudget.de [17.11.2005].