Anorexia nervosa

Aus Familienwortschatz
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Anorexia nervosa allgemein

Anorexie nervosa, auch Magersucht genannt; bedeutet übersetzt nervöse, also psychisch bedingte Appetitlosigkeit (vgl. Reich/ Götz-Kühne /Killius 2004, 18). Der Begriff ist irreführend, denn die meisten Betroffenen verspüren sehr wohl Appetit, leugnen dies jedoch. Sie verweigern die Nahrung gänzlich oder essen nur mehr minimale Mengen. Die deutlich sichtbare Folge ist starker Gewichtsverlust. Trotz des starken Untergewichts empfinden sich die Betroffenen zu dick – diese so genannte Körperschemastörung ist auch bei den Diagnosekriterien mit aufgeführt. Anorexia nervosa ist „die psychische Krankheit mit der höchsten Sterblichkeitsrate“ (Herzog 2001). Personen, die an einer Anorexie erkranken, haben im Vergleich zu gesunden Personen des gleichen Alters und Geschlechts ein viermal höheres Risiko zu sterben (vgl. van Hoeken et al. 2003). Der Großteil der Betroffenen ist weiblichen Geschlechts, wobei Mädchen der Altersgruppe zwischen 14 und 19 Jahren ca. 60 % der weiblichen Betroffenen darstellen (vgl. Legenbauer/ Vocks 2006, 3). Entsprechend der DSM-IV-TR-Kriterien (Saß et al. 2003) wird die Diagnose von Anorexia nervosa anhand von vier Hauptkriterien gestellt:

A Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichts zu halten

B Ausgeprägte Ängste vor einer Gewichtszunahme oder davor, dick zu werden, trotz bestehenden Untergewichts

C Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und des Körpergewichts, übertriebener Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung oder Leugnen des Schweregrades des gegenwärtigen geringen Körpergewichtes.

D Das Ausbleiben der Periode (Amenorrhoe). Es resultiert aus mit dem Untergewicht anorektischer Personen assoziierten Hormonveränderungen.

Die Diagnose Anorexia nervosa kann gestellt werden, wenn ein Gewichtsverlust von über 25% des idealen Körpergewichts vorliegt. Die Mehrzahl der Patienten mit einer Anorexie vermeidet eine Nahrungsaufnahme; manche Patienten leiden jedoch unter Heißhungeranfällen und geben dann die aufgenommene Nahrung wieder von sich, um eine Gewichtszunahme zu verhüten (dies geschieht durch selbstinduziertes Erbrechen und die Einnahme von Laxanzien). Fehlen die typischen Symptome einer Anorexia nervosa, so kann evtl. eine atypische Anorexia nervosa vorliegen. Diese Patienten leiden häufig in erster Linie unter atypischen oder unerklärlichen gastrointestinalen Symptomen. Solche Patienten benutzen oft ihre körperliche Verfassung und Manipulationen bei der Nahrungsaufnahme als Mittel, um mit emotionalen Streßsituationen fertig zu werden. Die Entstehungsbedingungen von Anorexia nervosa sind wie bei allen Formen der Essstörungen durch viele Faktoren bedingt. Individuelle Dispositionen spielen bei Entstehung und Aufrechterhaltung ebenso eine Rolle wie familiäre und gesellschaftliche Hintergründe. Anorexia nervosa ist Ausdruck schwerer seelischer Konflikte, die nicht bewältigt werden können (vgl. Reich/ Götz-Kühne/ Killius 2004, 32).

Der Ausschluß anderer Ursachen für die Einschränkung der Nahrungsaufnahme kann Schwierigkeiten bereiten, vor allem hinsichtlich der Endokrinopathien, da die Anorexia nervosa mit einem klinischen Bild und Laborbefunden einhergeht, die auf eine Funktionsstörung der Gonaden, der Hypophyse, der Schilddrüse, der Nebennieren und des Hypothalamus hinweisen können. Besteht der Verdacht auf eine entsprechende Endokrinopathie, so muß die Hormonstörung behandelt werden; falls sich Anorexie und Gewichtsverlust unter dieser Therapie nicht zurückbilden, sollte die Diagnose einer Anorexia nervosa in Betracht gezogen werden; es erübrigt sich dann, die endokrinologische Erkrankung weiter zu verfolgen. Ist die Diagnose einer Anorexia nervosa gestellt, so kann eine Therapie eingeleitet werden.


Therapeutische Behandlung

Mehrere therapeutische Behandlungsformen sind möglich bei Anorexia nervosa: Ambulant, tagesklinisch, in speziell ausgerichteten therapeutischen Wohngemeinschaften oder stationär. Oft durchlaufen die PatientInnen mehrere Therapien im Wechsel. Die Indikationen zur ambulanten, teilstationären oder stationären Behandlung hängen vom Schweregrad der somatischen und psychosozialen Beeinträchtigung der Betroffenen ab. Die Methode der ambulanten Therapie ist am stärksten vertreten (vgl. Hay et al. 2007 1), zumal sich Personen mit Anorexia nervosa auch im Anschluss an einen Klinikaufenthalt ambulant nachbehandeln lassen. „Eine stationäre Behandlung ist bei schweren, einschränkenden Symptomen, die nicht auf ambulante Therapie angesprochen haben, schweren gleichzeitigen medizinischen Problemen, psychiatrischen Begleiterkrankungen, Suizidalität, schwerem gleichzeitigen Alkohol- oder Drogenabusus sowie bei festgefahrenen familiären und partnerschaftlichen Interaktionen notwendig“ (Reich et al. 2005, 43). Ein klinisches Merkmal für die stationäre Behandlung ist lebensbedrohliches Untergewicht mit einem BMI (Körpergewicht / Körpergröße²) von < 13 kg/m². Behandlungserfolge hängen von der Dauer der Erkrankung ab: Je früher sich Personen mit Anorexia nervosa behandeln lassen, desto besser ist die Heilungschance (vgl. Christopher/ Fairburn 2005). Schwerpunkte der verschiedenen Behandlungsansätze von Anorexia nervosa sind gegenwärtig psychische Stabilität und Gewichtsstabilisierung (vgl. Jacinta/ Hope/ Steward/ Fitzpatrick 2006). Der Behandlungsschwerpunkt Gewichtsstabilisierung ist als ein Merkmal für Therapieerfolg klinisch messbar: Eine wöchentliche Gewichtszunahme zwischen 0,5 und 1,5 kg soll während der stationären Behandlung erreicht werden (vgl. www.Awmf-leitlinien.de). Angestrebt wird dabei das Normalgewicht bei einem BMI von ca. 20 kg/m². Normalgewicht entspricht ungefähr einem Body-Mass-Index von 20-25 kg/m² (vgl. Reich et al. 2004, 19). Die Verbesserung des Ernährungszustands. muß langsam beginnen, um die seltenen, aber gelegentlich verhängnisvollen Auswirkungen einer raschen Nahrungszufuhr zu vermeiden, vor allem, weil diese Patienten die Folgen des Hungerns in der Regel besser tolerieren als Patienten mit einer vergleichbaren Mangelernährung aufgrund anderer Erkrankungen.

Die psychische Stabilität als weiterer Behandlungsschwerpunkt ist im Vergleich zum BMI in Bezug auf Therapieerfolg schwer messbar. Eingreifendere Maßnahmen sind erforderlich, wenn die Patienten auf die anfängliche Behandlung schlecht ansprechen oder sich im Zusammenhang mit dem Hungerzustand schwere Komplikationen entwickeln. Erzwungen lassen sich Patientinnen jedoch schwer auf eine psychologische Behandlung ein. Patientinnen nehmen aufgrund der geforderten Gewichtszunahme zwar kurzfristig zu, langfristig wirkt es aber nicht. Betroffene werden rückfällig oder wechseln in das Krankheitsbild Bulimia nervosa (siehe unten)oder Binge eating (eine Form von Essstörungen mit Episoden von Fressanfällen ohne gewichtsregulierende Gegensteuerung). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine frühzeitig eingeleitete Zwangsernährung die Dauer der stationären Behandlung bei Patienten mit einer Anorexie verkürzt oder die Langzeitprognose positiv beeinflußt. Bei ausgewählten Fällen soll sich die Gabe von Chlorpromazin, allein oder kombiniert mit Insulin, als vorteilhaft erweisen. Amitriptylin, L-Dopa und Lithium haben sich in kleinen Patientenkollektiven ebenfalls als wirksam herausgestellt. 66 bis 80% der Patienten sprechen langfristig gut bis mittelmäßig auf eine Behandlung an; die Todesrate liegt Berichten zufolge zwischen 5 und 20%.


Therapieerfahrungen aus der Perspektive von Betroffenen

Es gibt einige Studien, die sich mit der Perspektive und dem Erleben der Betroffenen in Bezug auf ihre therapeutischen Erfahrungen beschäftigen. Die Ergebnisse, die die hilfreichen und hemmenden Faktoren aus der Perspektive der Betroffenen beschreiben, sind für die Weiterentwicklung der Behandlungsansätze und die Vermeidung von Rückfällen bei Anorexia nervosa hilfreich. Als Ergebnis von qualitativen Studien beschreiben z.B. Federici et al. (vgl. 2008, 4-7) hilfreiche Faktoren, die Patientinnen bei der Reflektion ihres Heilungsprozess durch therapeutische Behandlung beschreiben:

  • soziale Unterstützung
  • die Motivation für Wandel und Veränderung
  • Wille, persönliche Stärke und der Wunsch, nach einem besseren Leben
  • die Entwicklung einer Identität unabhängig von der Essstörung

(die Fähigkeit und der Wunsch, eine Identität unabhängig von Gewicht, Aussehen und Form zu entwickeln)

  • Erhaltung gesunder und vielfältiger unterstützender Beziehungen (bzw. Abbau schädlicher Beziehungen oder Umgebungen)
  • Die Art der Behandlung und die (wahrgenommene) Qualität der Therapeutischen professionellen Beziehung (Therapeuten als authentisch, respektvoll, nicht urteilend zu erleben)

Als hemmende Faktoren bei der Reflexion von Behandlungserfahrungen bezeichnen Betroffene in dieser Studie von Ferdici et al. (2008, 4-7) den Verlust der Struktur, den sie in der Klinik hatten und die nicht in den Alltag zu transferieren war. Außerdem hatten sie unrealistische Erwartungen über die Heilung, die Zuhause zu Enttäuschung und Überforderung führten. Weiterhin problematisch haben Patientinnen die beschriebene Diskrepanz zwischen den Behandlungsschwerpunkten Gewichtsstabilisierung und psychische Stabilität empfunden. Betroffene schilderten, die relativ schnelle Gewichtszunahme emotional nicht verarbeiten zu können. Unter anderem aus diesen Gründen folgten Rückfälle oder eine Verschiebung in das Krankheitsbild Bulimia nervosa.


Bulimia nervosa

Patienten, die übermäßig essen und dann die aufgenommene Nahrung wieder freiwillig von sich geben, leiden unter einer Bulimie i.e.S. (Bulimia nervosa), sofern ihr Körpergewicht normal ist. Infolge dieses sprunghaften Verhaltens kann es bei ihnen zu raschen Gewichtsschwankungen kommen. Selbsttätig herbeigeführtes Erbrechen durch Reizung des Oropharynx oder durch Einnahme von Emetika ist sehr häufig. Der Laxanzienabusus dieser Patienten beruht auf ihrer irrtümlichen Annahme, daß diese Mittel eine Gewichtszunahme verhindern, indem die Nährstoffe beseitigt werden, ehe sie resorbiert werden können. Auch durch übermäßige Anwendung von Diuretika soll eine rasche Gewichtsreduktion erzielt werden. Aus diesen Praktiken können viele Komplikationen entstehen, welche die Patienten gewöhnlich dazu veranlassen, einen Arzt zu konsultieren. Die Therapie besteht darin, die Erkrankung festzustellen, Stoffwechselstörungen zu korrigieren und eine langfristige Psychotherapie einzuleiten.

Eine exzessive Nahrungsaufnahme ist mit verschiedenen inneren Erkrankungen und psychischen Störungen verbunden, die speziell diagnostiziert und behandelt werden müssen, um die Eßstörung zu korrigieren. Unter Bulimie versteht man ein gestörtes Eßverhalten mit übermäßiger Nahrungsaufnahme ohne Vorliegen weiterer Störungen. Die akute Erweiterung des Magens, die über die durch diese exzessive Nahrungsaufnahme verursachte Dilatation hinausgeht, kann zu Komplikationen führen. Eine metabolische Alkalose und Hypovolämie und in schwereren Fällen eine Ruptur des Magens oder der Speiseröhre können die Folge sein. Selten kommt es vor, daß sich aufgrund der Bulimie eine Pankreatitis entwickelt, die möglicherweise mit den Auswirkungen der exzessiven Kalorienzufuhr nach einer relativen Hungerphase zusammenhängt. Die Behandlung besteht hauptsächlich in einer langfristigen Psychotherapie.

Literatur

  • Christopher, G /Fairburn, MD: Evidence-Based Treatment of Anorexia Nervosa. In: Int J Eat Disord 2005; 37, 26–S30
  • Federici /Kaplan: The Patient’s Account of Relapse and Recovery in Anorexia Nervosa. In: European Eating Disorders Review 2008, 16, 1–10
  • Herzog, David, Professor of Psychiatry, University of Harvard, USA, Boston Tody 2001. In: Lit: Legenbauer / Vocks: Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexia und Bulimie: Heidelberg 2006, 2
  • Hay, PPJ / Bacaltchuk, J / Claudino, AM / Byrnes, R / Yong, PY./ Ben-Tovim, D: Individual psychotherapy in the outpatient treatment of adults with anorexia nervosa (Cochrane Review): The Cochrane Library, Issue 4.: John Wiley & Sons Ltd., Chichester, UK 2007, http://www.thecochranelibrary.com
  • Hoeken D van/Seidel J. /Hoek HW: Epidemiology. In: Treasure, J / Schmidt, U /Furth, E van den (eds): Handbook of eating disorders, 2 nd edn. Wiley, Chichester, UK: 2003, 11-34
  • Kunz, Regina /Ollenschläger, Günther /Raspe, Heiner /Jonitz, Günther /Kolkmann, Friedrich-Wilhelm: Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis. Köln 2000
  • Legenbauer, Tanja /Vocks, Silja: Manual der kognitiven Verhaltenstherapie bei Anorexia und Bulimie, Heidelberg: 2006
  • Reich, Günter /Witte-Lakemann, Gabriele /Killius, Uta: Qualitätssicherung in Beratung und ambulanter Therapie von Frauen und Mädchen mit Essstörungen. Eine Praxisstudie. Abschlussbericht. Göttingen 2005
  • Reich, Günther /Götz, Cornelia /Killius, Uta: Essstörungen Magersucht • Bulimie • Binge Eating: Stuttgart 2004
  • Saß, H /Wittchen, HU /Zaudig, M: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM-IV-TR: übersetzt nach der 4. Auflage

Internetquellen

[Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)]


siehe auch

Essen und Trinken Mangelernährung

Links