Latex-Allergie bei Spina bifida Patienten

Aus Familienwortschatz
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Immunsystem allgemein

Das menschliche Immunsystem besitzt die Aufgabe, den Organismus vor Angriffen zu schützen, die innerhalb und/oder außerhalb des Körpers erfolgen. Zu diesem Zweck verfügt es über Effektormechanismen, die in der Lage sind, Fremdkörper wie z.B infektiöse Mikroorganismen, Viren, Pilze oder Parasiten anzugreifen und zu zerstören. Aber auch in Abwesenheit einer Infektion kann es zu Immunreaktionen im Körper kommen, wobei es neben Autoimmunkrankheiten und Transplantatabstoßungen zu einer Überempfindlichkeit (Hypersensibilität) des Organismus kommen kann. Im Rahmen der Überempfindlichkeitsreaktion reagiert das Immunsystem auf harmlose fremde Substanzen in unangemessener Weise und schädigt dabei körpereigenes Gewebe. Sie manifestiert sich in verschiedenen Krankheitsbildern, die sich entsprechend des jeweils zugrunde liegenden Mechanismus' der überschießenden Immunreaktion voneinander unterscheiden lassen. Von Coombs und Gell wurde erstmals eine schematische Einteilung der Überempfindlichkeitreaktionen in vier Typen (I-IV) vorgenommen; in der klinischen Praxis lassen sich jedoch häufig Mischformen beobachten [Coombs & Gell, 1975].

Naturlatexallergie

Der Begriff "Naturlatexallergie" beschreibt eine Allergie, die durch Naturgummi (Naturlatex, NRL) ausgelöst bzw. hervorgerufen wird. Naturlatex wird zum überwiegenden Teil in Südostasien (Malaysia) aus der Pflanze Hevea brasiliensis gewonnen und findet aufgrund seiner Materialeigenschaften seit Jahrzehnten vielfältige Anwendung in verschiedensten Produkten. Die Latexallergie kann als Überempfindlichkeitsreaktion vom Typ IV, hier sind die Gummi-Zusatzstoffe die eigentlichen Auslöser, oder Typ I auftreten. Dabei kommt der Allergie vom Soforttyp heute die größere Bedeutung zu. Zugrunde liegt dieser Erkrankung die Reaktion von Naturlatex-spezifischen IgE - Antikörpern im Organismus eines sensibilisierten Menschen mit Naturlatexproteinen [Turjanmaa et al., 1984; Axelsson et al., 1987].

Die erste Erwähnung als Auslöser von Allergien findet Naturgummi im Jahre 1927 in Deutschland [Grimm & Stern; 1927]. Erst 52 Jahre später weist Nutter erneut auf diese Allergie, in Form der Soforttypreaktion, hin [Nutter et al., 1979]. In den folgenden Jahren steigt die Zahl der Publikationen zum Thema "Latex-Allergie" sprunghaft an, wobei zunächst die zellulär vermittelte Immunantwort, (Typ IV-Sensibilisierung), gegenüber Zusatzstoffen wie Vulkanisiermittel, Vulkanisationsbeschleuniger (in erster Linie Thiurame), Antioxidantien, Konservierungsmittel etc. im Vordergrund steht [Frosch et al., 1987; Fuchs et al., 1995; Heese et al., 1995]. Seit 10 Jahren ist jedoch ein erheblicher Anstieg der allergischen Erkrankungen vom Soforttyp (Typ I-Sensibilisierung) zu verzeichnen. Das Spektrum der Überempfindlichkeitsreaktionen reicht von der Kontakturtikaria über Rhinitis, Konjunktivitis, Asthma bronchiale bis hin zum mitunter lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schock. Dabei scheint es im Verlauf der Allergie häufig zu einer Progression der Symptome zu kommen [Sussman et al., 1991; Heese et al., 1995]. Eine Reihe von Todesfällen infolge allergischer Reaktionen auf Naturlatex ist dokumentiert [Dillard et al., 1992; Slater, 1994].


Zuwachs an Naturlatexallergien

Auch wenn man davon ausgehen muß, daß die Ätiopathogenese von Latexallergien in den achtziger Jahren häufig falsch, beispielsweise als Formaldehydallergie im Operationsbereich oder Penicillinallergie im Pflegebereich bewertet wurde, ist die Verbesserung der Diagnostik nur als marginaler Faktor für den Zuwachs an Latexallergien in den letzten Jahren zu betrachten. Vielmehr stellt die Hauptursache vor allem der gestiegene Verbrauch von Naturlatexhandschuhen als Schutz vor Infektionskrankheiten wie HIV oder Hepatitis dar. Die gesteigerte Nachfrage (1996 betrug der weltweite Verbrauch an Naturlatex für die Herstellung von Einmal- und OP-Handschuhen etwa 350.000 t) führte zu veränderten Produktionsbedingungen während des Herstellungverfahrens. So wurden z.B. Waschschritte (sog. "Auslaugen") ausgespart, so daß die Handschuhe einen hohen Proteingehalt besaßen [Fuchs et al., 1995]. Mittlerweile gehen die Unternehmen aber wieder zunehmend dazu über, ihre Herstellungsverfahren umzustellen und Produkte mit geringerem Proteingehalt zu fertigen.

Allein im Jahre 1993 wurde in Großkliniken eine Vervierfachung des Verbrauchs latexhaltiger Einmalhandschuhe registriert. Diese werden gegenüber Handschuhen aus vollsynthetischen Kunststoffen (z.B. Vinyl) bevorzugt, da sie mechanische und preislicher Vorteile besitzen und zudem leichter zu entsorgen sind. So sind synthetische Gummihandschuhe bis zu 85% teurer als die aus Naturlatex gefertigten [Sussmann, 1992]. Dies stellt angesichts eines Gesamtverbrauches von ca. 7 Mrd. Paaren Einmalhand-schuhen im Jahre 1995 allein in den USA einen weiteren bedeutsamen Faktor dar [Baur, 1995].

Ergänzend angemerkt seien Berichte aus der Literatur, die Kreuzreaktionen zwischen Latexallergenen und Proteinen von z.T. exotischen Früchten wie Avocado, Kiwi , Eßkastanie, Banane, aber auch Grundnahrungsmittel wie Kartoffel aufzeigen. Ob der Genuß dieser Nahrungsmittel eine Latexallergie bahnen bzw. verursachen kann und/oder der Gebrauch von NRL-Materialien eine Sensibilisierung gegen die genannten Nahrungsmittel auslöst, läßt sich bislang jedoch nicht beantworten. Es gibt Hinweise, daß die Latexsensibilisierung hier der Auslöser ist [Mäkinen-Kiljunen et al., 1994, Lavaud et al., 1995; Möller et al.,1998].

Obwohl naturlatexallergenhaltige Gebrauchsgegenstände und Geräte verstärkt im medizinischen Bereich in Form von z.B. Handschuhen, Kathetern, Beatmungsmasken, Infusionsschläuchen etc. zum Einsatz kommen, sind sie nicht auf diesen beschränkt. Auch im alltäglichen Gebrauch sind Produkte aus Latex präsent (beispielhaft genannt seien Luftballons, Wärmflaschen, Haushaltshandschuhe, Spielzeug, Kondome, Schnuller, die Gummierung von Briefmarken etc.). Der Gebrauch dieser Produkte kann auch hier zu erheblichen klinischen Reaktionen bei Sensibilisierten führen [Turjanmaa et al., 1989; Effendy et al., 1992, Wyss et al., 1993].

Hauptrisikogruppen für eine NRL-Sensibilisierung

Zu den Hauptrisikogruppen zählen Beschäftigte im Gesundheitswesen, Patienten mit einer Vielzahl chirurgischer Eingriffe und Beschäftigte der gummiverarbeitenden Industrie. So sind in OP-Einheiten bis zu 18% des Personals und unter Kindern mit Anomalien des Neuralrohres (Spina bifida, SB) mehr als 50% gegenüber Latex sensibilisiert. 18% der perioperativen anaphylaktischen Reaktionen sollen auf eine Naturlatexallergie zurückzuführen sein. [Baur et al., 1996].


Risikofaktoren für eine Naturlatexsensibilisierung

Zu den Risikofaktoren für das Individuum sind zunächst, wie bei vielen Allergenen, die Allergenexposition, die Allergenkonzentration, die Dauer und die Frequenz der Allergenkontakte zu zählen.

Dabei lassen sich unterschiedliche Arten der Exposition unterscheiden:

Über die Atemwege und die Haut

Über die Atemwege und die Haut, verstärkt bei Beschäftigen des Gesundheitswesens (Health care workers, HCW) und Beschäftigten der Gummiindustrie [Baur et al., 1990, Tomazic et al., 1994, Miguel et al., 1996].

Die respirative Allergenaufnahme erfolgt in der Regel über den Handschuhpuder, der dem Verkleben des Handschuhs und bei längeren Tragezeiten der als unangenehm empfundenen Schweißbildung vorbeugen soll. Die allergenen Proteine gehen während des Fertigungsprozesses der Handschuhe auf die Maisstärke-Partikel (Durchmesser 5-10µm) des Puders über, die dann als Allergen-Träger fungieren und eingeatmet werden. In der nativen, fast ausschließlich aus Kohlenhydrat bestehenden Maisstärke findet sich praktisch kein Protein bzw. Allergen, gegen das die IgE-AK latexallergischer Probanden gerichtet sind. Eine allergische Reaktion vom Typ I auf Maisstärkepuder per se ist daher extrem selten [Segger et al., 1992]. Baur et al. [1995] zeigten, daß die Oberfläche eines Latex-Handschuhs bis zu 30mg Puder enthalten kann. Es wurde nachgewiesen, daß in Räumen, in denen Latex-Handschuhe in hohem Maße zum Einsatz kamen, die Konzentration an Latex-Allergenen mehr als 200ng/m3 Raumluft betragen kann. In diesem Zusammenhang wurde beobachtet, daß es bei Patienten und Personal mit bekannter Latex-Sensibilisierung bereits durch den bloßen Aufenthalt in Räumen, in denen gepuderte Latex-Handschuhe verwendet wurden, zu allergischen Reaktionen bis hin zum schweren Asthmaanfall kam, ohne daß direkter Hautkontakt zu den Handschuhen bestand [Allmers et al., 1996].

Über die Blutbahn bzw. die Schleimhäute

Über die Blutbahn bzw. die Schleimhäute, bei Patienten, die zu Beginn ihres Lebens mehreren Operationen ausgesetzt sind.

Hier sind primär Kinder mit Spina bifida und/oder Urogenital-Fehlbildungen zu nennen [Alenius et al., 1993; Tosi et al., 1993; Drexler et al., 1995]. Aufgrund von operativen Eingriffen kommt es wiederholt zu einem frühzeitigen und intensiven Schleimhautkontakt mit Naturgummi-Handschuhen und anderen latexhaltigen Materialen. Dadurch erfolgt die Sensibilisierung meist in den ersten Lebenstagen. In der Folgezeit wird diese dann verstärkt durch die nachfolgenden Versorgungsmaßnahmen und Manipulationen (z.B. wiederholtes manuelles Ausräumen bei Rektalatresie) der Patienten unter Verwendung von Latex-Handschuhen, Latex-Unterlagen etc. . Dabei, so zeigten Michael et al. [1994] und Chen et al. [1997] am Beispiel von Spina bifida-Patienten, gibt es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl an Operationen und dem Grad einer Latex-Sensibilisierung. Sie fanden, daß bei mehr als fünf Operationen das Risiko einer Latex-Überempfindlichkeit signifikant erhöht ist. Außerdem konnten sie die Beobachtung von Kelly et al. [1994] bestätigen, daß eine Anzahl von 10 und mehr Operationen ein beträchtliches Risiko für anaphylaktische Reaktionen darstellt. Darüber hinaus scheint die gentische Prädiposition des Individuums eine Rolle zu spielen, was daran erkennbar ist, daß Atopiker einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, eine Latex-Überempfindlichkeit zu entwickeln [Levy et al., 1992].


Das Latexallergen Hev b 1 (REF)

Das erste Protein, das Ende der 80er Jahre aus dem komplexen Proteingemisch der Latexmilch von Hevea brasiliensis isoliert und charakterisiert wurde, war der Rubber elongation factor (REF). Es erhielt seinen Namen, da es vom Enzym Prenyltransferase als Cofaktor benötigt wird, um Gummi aus multiplen cis-1,4-Isopreneinheiten zu synthetisieren [Dennis et al., 1989]. Vier Jahre später konnten Czuppon et al. zeigen, daß es sich bei diesem Protein um ein Hauptlatexallergen handelt und es erhielt aufgrund der internationalen Allergennomenklatur die Bezeichnung Hev b 1 [Czuppon et al., 1993]. Das Protein besitzt ein Molekulargewicht von 14,6 kDa und umfaßt 137 Aminosäuren, wobei Methionin, Histidin, Tryphtophan, sowie Cystein - und damit Disulfidbrücken - gänzlich fehlen. Das stark hydrophobe Protein ist in der Lage, Tetramere zu bilden und liegt zu einem hohen Prozentsatz an Gummipartikel gebunden vor. Dieser Umstand erschwert seine Reinigung sehr. Der N-Terminus liegt nach posttranslationaler Modifikation acetyliert vor, wobei die physiologische Bedeutung jedoch noch nicht bekannt ist.

Chen et al. gelang es 1996 mit Hilfe von überlappenden synthetischen Peptiden, die Hauptepitope im Bereich der Aminosäuren 31-64 und 122-134 zu identifizieren [Chen et al., 1996]. Während Kinder, die an Spina bifida oder anderen kongenitalen Anomalien leiden, primär spezifische Antikörper gegen Hev b 1 aufweisen, stellt für Beschäftigte im Gesundheitswesen (HCW) das Protein Hevein (siehe Tab. 1) das Hauptallergen dar. Diese Beobachtung ist bis heute Gegenstand zahlreicher Untersuchungen, wobei verschiedene Faktoren als Ursachen in Frage kommen. So glaubt man, daß der frühe Zeitpunkt der ersten Operation bei Patienten mit angeborenen Fehlbildungen (Spina bifida - Patienten werden normalerweise innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Geburt einer lebenserhaltenden Operation unterzogen) die signifikant hohe Sensibilisierungsrate gegen Hev b 1 bedingen könnte. Denn andere, ebenfalls mehrfach, jedoch später operierte Patienten mit neurologischen Störungen (z.B. Rückenmarks-verletzung) zeigen keinen signifikant erhöhten Ak-Titer gegen Hev b 1 [Konz et al., 1995].

Porri und De Swert kamen zu dem Ergebnis, daß primär die Anzahl der Operationen und nicht die Erkrankung an Spina bifida selbst zur Sensibilisierung führt [Porri et al., De Swert et al., 1997]. Diese Beobachtung konnte von Chen bestätigt werden, der beobachtete, daß 80 % der Spina bifida-Patienten spezifische Ak gegen Hev b 1 aufwiesen, wenn sie sich neun oder mehr Operationen unterziehen mußten. Bei vier bis sieben Operationen lag die Sensibilisierungsrate bei 40%, während sie bei zwei bis vier Operationen einen Wert von knapp 30% erreichte [Chen et al., 1997]. Darüberhinaus läßt sich bisher nicht ausschließen, daß die Art der Exposition - Allergen-Eintritt bei Spina bifida-Patienten über die Schleimhaut und parenteral, bei Beschäftigten im Gesundheitswesen über Atemwege und Haut - eine entscheidende Rolle spielt [Rihs et al., 1997]. Aufgrund der zunehmenden Erkenntnisse der Forschung, daß primär die Proteine im Latex potente Allergene sind, wurden in der Vergangenheit verschiedene Möglichkeiten untersucht, proteinfreie bzw. proteinreduzierte Produkte herzustellen. Hierzu kamen z.B. Enzymzusätze, Auslaugbäder, Chlor- bzw. KOH-haltige Lösungen zum Einsatz, wobei die Proteine aus den Produkten entfernt oder ihre IgE-Bindungsfähigkeit eingeschränkt werden sollte [Gazeley et al., 1988; Pailhories et al., 1993; Dalrymlpe et al., 1992; Baur et al., 1997]. Es scheint jedoch (noch) nicht möglich zu sein, Produkte herzustellen, die gar kein Naturlatexprotein enthalten. Dies ist u.a. auf den Umstand zurückzuführen, daß bestimmte Proteine in Latexprodukten an Gummipartikel gebunden vorliegen.

siehe auch

Literatur

Weblinks

Weitere Informationen über: Berufgenossenschaftliches Forschungsinstitut für Arbeitsmedizin, Bochum (BGFA, Bochum)