Vorwissen

Aus Familienwortschatz
(Weitergeleitet von Vorerfahrung)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Es gibt bezüglich der Verwertung von Vorwissen und Vorerfahrung im Forschungsprozess zwei ganz gegensätzliche Standpunkte.

Forderungen

Kein Vorwissen

Der Forscher sollte sich frei machen von all seinem Vorwissen


Forderungen von Flick (Lit.: Flick, von Kardorff et al. 2005, S. 265 ff.)

  • In der qualitativen Forschung werden ex-ante-Hypothesen (vorab-Hypothesen) abgelehnt.
  • Der Grund ist, dass man vermutet, dass das Wissen die Wahrnehmung und das Handeln beeinflussen.
  • Der Forscher soll nicht mit den Hypothesen auf bestimmte Aspekte festgelegt sein.
  • Vorwissen soll verdrängt werden zu Gunsten größtmöglicher Offenheit, Offenheit auf das potentiell Andere
  • Glaser und Strauss fordern, der Forscher solle sich frei machen von all seinem Vorwissen
  • Die Formulierung einer Theorie soll am Ende der Forschung stehen, nicht am Anfang
  • Theoriegenerierung statt Testung
  • Kontrolle des mitgebrachten Vorwissens
  • Möglichst voraussetzungslos „sich einlassen“ auf das Feld
  • der Feldeinstieg ohne Vorwissen kann Motivation steigern

Vorwissen als Gütekriterium

Vorwissen wird aber auch als Gütekriterium verstanden, wenn der Forscher in offener Weise seine reflektierte Subjektivität des Verstehens darstellt!

  • Erkenntnisse über soziale Phänomene tauchen nicht aus eigener Kraft aus dem Nichts auf, sondern werden vom Forscher von Anfang an konstruiert.
  • Generelle Verzicht auf ex-ante-Hypothesen gefährdet die Realisierung quantitativer Forschungsziele und sei dogmatisch.
  • Möglichkeit und Notwendigkeit der Reflexion des Vorwissens
  • Es kann keine „reine“ Rekonstruktion sozialer Realität geben => es ist nur möglich, Kategorien anderer Personen auf der Basis der eigenen Kategorien zu verstehen
  • Man muss akzeptieren, dass jede Wahrnehmung nur unter Rückbezug auf die eigenen Deutungsschemata Bedeutung gewinnt.
  • Kombination aus methodischer Offenheit und Reflektion über das Vorwissen
  • Eine Methode allein garantiert noch nicht per se für inhaltliche Offenheit, implizit gebliebenes Vorwissen führt zu selektiver Wahrnehmung und Interpretation
  • Reflektion des Vorwissens ist abhängig von der Art des Vorwissens:
    1. Alltagsweltliches Vorwissen:
      • Nur teilweise zu erklären
      • Reflexion oft nicht einlösbar
    2. Allgemein-theoretische Konzepte:
      • Mehr Aussicht auf Erfolg bei Reflexion
      • In größerem Ausmaß bewusst
      • Lassen sich auch nicht vollständig erklären
    3. Gegenstandsbezogene Konzepte:
==> Vorwissen ist eine Sensibilität für das Feld!

Vier relevante Dimensionen theoretischen Vorwissens

(Dimensionen: graduelle Abstufung, Skala von wenig bis viel)


Grad der Explikation des Vorwissens

Explikation = Darlegung, Erklärung, Erläuterung

  • Die Erwartungen des Forschers müssen erklärt werden
  • Das (implizite) Theoriewissen dient als „Linse“ oder „Brille“, durch die der Forscher die empirische Realität wahrnimmt
  • Es ist wünschenswert, dass dem Forscher ungewöhnliche Dinge zustoßen (nicht erwartete Ereignisse, überraschende Mitteilungen). Diese müssen dann theoretisch eingeordnet werden.
  • Je umfassender der Theoriefundus ist, desto schwieriger wird es, den Wissensvorrat vor dem ersten Feldkontakt auszubreiten

Grad der Herkunft dieses Vorwissens

  • Unterscheidung zwischen Forscherwissen und Akteurswissen
  • Zugang zu Akteurswissen finden (was bedeutet es für eine Pflegeperson, die Verantwortung für einen pflegebedürftigen Angehörigen übernimmt?)
  • Zirkel: Zugang zum Wissen der Akteure zu finden, ist einerseits das Ziel der Forschungsbemühungen, andererseits aber auch deren Voraussetzung, denn der Forscher muss schließlich über alltägliche Sprech- und Verstehenskonzepte verfügen, weil er sonst gar nicht in der Lage wäre, Handlungen und Äußerungen der Akteure im untersuchten Feld zu verstehen
    • Voraussetzung: die Kultur, in der die Untersuchung stattfindet, sollte Bezug zur Lebenswelt des Forschers haben.
    • Je enger der Bezug ist, desto größer ist das Risiko, die notwendige Distanz zum Untersuchungsfeld zu verlieren.


Grad der Theoretisierung dieses Vorwissens

  • Verschiedene Wissenskontexte aufgrund unterschiedlicher Abstraktionsgrade (z.B. Alltagswissen)
  • Akteure im untersuchten Feld haben auch Zugang zu theoretischen Wissensbeständen
    • Nicht objektiv, enthalten Deutungen, Interpretationen
    • Forscher darf die Deutungen der Befragten nicht unkritisch übernehmen

Grad an empirischem Gehalt

Je mehr mögliche Beobachtungsaussagen formuliert werden können, die zum Vorwissen im Widerspruch stehen, desto höheren empirischen Gehalt hat die Beobachtungsaussage!

Vor- und Nachteile

Vorteile: Vorwissen beeinflusst

  • das qualitative Sampling: Vorwissen bestimmt und leitet die Samplingstrategie
  • die Kodierung
  • die Konstruktion von Kategorien und Dimensionen: Kodieren beobachteter Situationen durch subjektives Deutungsschema (kann auch eine Nachteil sein!)
  • die Bildung von Typen und Typologieng:
  • Erhöht die theoretische Sensibilität
  • Bietet Erleichterung zum Feldeinstieg
  • Grade bei fremden Kulturen kann es ein Orientierungsvorteil sein (z.B. Essenszeiten einer fremden Kultur konzentrieren sich auf abends und nicht mittags)


Nachteile:

  • je umfangreicher das implizite Wissen ist, das es zu explizieren gilt, desto schwieriger wird es, diesen Theorievorrat vor dem ersten Feldkontakt auszubreiten (mein Gedanke hierzu: auch deshalb ist es so schwierig, qualitative Forschung in einem Feld durchzuführen, in dem man vertraut ist, Rest siehe nächsten Punkt)
  • je enger der Zugang zum Feld, desto höher die Gefahr relevante Konzepte zu übersehen und als Alltagsselbstverständlichkeiten wahr zu nehmen.
  • in einem fremden Kulturkreis kann es abweichende Wissensbestände geben => Übersetzer hat hier eine besondere Bedeutung!

Literatur

  • Flick, Uwe; von Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (Hrsg. 2005): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Siehe auch