Fristlose Kündigung einer Altenpflegerin wegen der Anzeige von Missständen bei der Staatsanwaltschaft

Aus Familienwortschatz
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die fristlose Kündigung der Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch, die ihre Arbeitgeberin wegen besonders schweren Betrugs angezeigt und kritische Flugblätter verteilt hatte, wurde im Juli 2011 vom Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für ungerechtfertigt erklärt, weil das deutsche Arbeitsgericht die Meinungsfreiheit von Frau Heinisch nicht ausreichend berücksichtigt hatte. Der Fall hatte zuvor drei deutsche Arbeitsgerichtsinstanzen und das Bundesverfassungsgericht beschäftigt.

Frau Heinisch gab bei der Staatsanwaltschaft an, dass ihre Arbeitgeberin wissentlich nicht die in ihrer Werbung versprochene hochwertige Pflege leiste. Sie erbringe nicht die Dienstleistungen, die sie berechnete und gefährde dadurch die Patienten. Ihre Arbeitgeberin habe systematisch versucht, diese Probleme zu verschleiern, indem Pflegekräfte angehalten worden seien, Leistungen zu dokumentieren, die sie so nicht erbracht hätten. In den verteilten Flugblättern wurde der Arbeitgeberin Profitgier und schamlose Ausnutzung des sozialen Engagements des Pflegepersonals vorgeworfen.

Die Entscheidung des Menschengerichtshof hat Bedeutung für die Frage, ob sich Pflegekräfte bei gefährlicher Pflege und schlechten Arbeitsbedingungen in der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, an die Öffentlichkeit wenden dürfen und wann sie gegen ihren Arbeitgeber Strafanzeige erstatten können, ohne nachteilige arbeitsrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen.


Sachverhalt

Frau Heinisch war seit 2002 als Altenpflegerin in einem Pflegewohnheim der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH beschäftigt, deren Mehrheitseigner das Land Berlin ist. Sie informierte ihre Arbeitgeberin zwischen Januar 2003 und Oktober 2004 mehrfach darüber, dass das Pflegepersonal überlastet sei und deshalb seinen Pflichten nicht vollständig nachkommen könne. Sie wies auch darauf hin, dass Pflegeleistungen nicht korrekt dokumentiert würden. Später machte auch ihr Rechtsanwalt auf pflegerische und hygienische Mängel aufmerksam.

Im November 2003 stellte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung wesentliche Mängel bei der geleisteten Pflege fest, unter anderem eine unzureichende Personalausstattung sowie unzureichende Pflegestandards und eine mangelhafte Dokumentation. Nachdem die Arbeitgeberin die Vorwürfe zurückgewiesen hatte, erstattete Frau Heinisch im Dezember 2004 durch ihren Anwalt Strafanzeige wegen Betruges. Die Staatsanwaltschaft stellte schließlich die Ermittlungen gegen die Arbeitgeberin im Mai 2005 endgültig ein, weil sie keinen hinreichenden Tatverdacht festgestellt hatte[1]

Als Folge der Arbeitsüberlastung war Frau Heinisch mehrfach arbeitsunfähig erkrankt. Im Januar 2005 wurde sie deswegen ordentlich zum Ende des Monats März gekündigt.

Ende Januar verteilte Frau Harnisch Flügblätter der Gewerkschaft ver.di, in denen der Arbeitgeberin Einschüchterung, Profitgier und Ausnutzung der Pflegekräfte vorgeworfen wurde. In dem Flugblatt wurde auch von der Strafanzeige berichtet. Erst dadurch erfuhr die Arbeitgeberin davon, worauf sie das Arbeitsverhältnis am 9. Februar 2005 fristlos kündigte.

Gerichtsverfahren

Das Arbeitsgericht Berlin[2] urteilte, dass die fristlose Kündigung rechtsunwirksam sei. Die Äußerungen in dem Flugblatt seien noch durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Da das Gericht der Meinung war, dass die Arbeitgeberin ihre Kündigung nicht auf die Strafanzeige gestützt habe, äußerte es sich in seinem Urteil zu dieser Problematik nicht weiter.

Das Berufungsgericht gab dagegen der Arbeitgeberin Recht[3]. Frau Heinisch habe in grober Weise gegen ihre arbeitsvertraglichen Rücksichtnahmepflichten verstoßen. Ihre Strafanzeige sei leichtfertig gewesen, denn sie habe im Prozess nicht darlegen könne, auf welche Tatsachen sie ihre Anzeige gestützt habe. Weil Frau Heinisch nicht das ihr Zumutbare getan habe, die vermeintlichen Missstände innerbetrieblich zu melden und zu klären, sei die Anzeige auch unverhältnismäßig gewesen. Mit der Strafanzeige habe sie nur Aufsehen erregen und ihre Arbeitgeberin in die öffentliche Diskussion bringen wollen, um Druck auszuüben, damit die Arbeitgeberin ihren Forderungen nachkomme. Das Landesarbeitsgericht ließ keine Revison gegen sein Berufungsurteil zu.

Die gegen die Nichtzulassung der Revion erhobene Beschwerde wies das Bundesarbeitsgericht zurück, ohne sich in der Sache zu äußern[4].

Am 12. Dezember 2007 wurde der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2007 zugestellt, die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Durch eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) machte Frau Heinisch am 9. Juni 2008 geltend, dass sie durch die Urteile der deutschen Gerichte in ihrem Menschenrecht auf freie Meinungsäuperung verletzt worden sei.

Der EGMR hatte darüber zu befinden, ob durch die deutsche Rechtsprechung ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitgebers, durch eine Kündigung seinen Ruf zu schützen und Frau Heinischs Interesse, ihre Meinung frei zu äußern und mit einer Strafanzeige Missstände beim Arbeitgeber offenzulegen (so genanntes whistleblowing), gefunden worden war.

Der EGMR konstatierte, dass die von Frau Heinisch offengelegten Informationen über die mutmaßlichen Mängel in der Pflege von öffentlichem Interesse waren. Er berücksichtigte, dass Frau Heinisch die Mängel zuvor ihrer Arbeitgeberin mitgeteilt hatte und dass weitere innerbetriebliche Beschwerden wirkungslos gewesen wären.

Er sah keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frau Heinisch wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht hätte, vielmehr habe der Medizinische Dienst der Krankenversicherung die Mängel bestätigt. Der EGMR zweifelte deshalb nicht daran, dass Frau Heinisch in gutem Glauben gehandelt hatte.

Die von Frau Heinisch geäußerten Vorwürfe hätten zwar eine schädigende Wirkung auf den Ruf und die Geschäftsinteressen der Arbeitgeberin gehabt, in einer demokratischen Gesellschaft sei das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen aber so wichtig, dass es gegenüber dem Interesse dieses Unternehmens an seinem Ruf und seinen Geschäftsinteressen überwiege. Die Kündigung habe nicht nur negative Folgen für die berufliche Laufbahn der Frau Heinisch, sondern könnte auch eine abschreckende Wirkung auf andere Mitarbeiter der Arbeitgeberin gehabt und sie davon abgehalten haben, auf Mängel in der institutionellen Pflege hinzuweisen.

Die deutschen Gerichte hatten somit keinen angemessenen Ausgleich herbeigeführt, zwischen der Notwendigkeit den Ruf der Arbeitgeberin zu schützen und der Notwendigkeit, Frau Heinischs Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung zu schützen. Folglich lag nach Auffassung des EGMR eine Verletzung der Meinungsfreiheit nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor.

Die Entscheidung des EGMR wurde am 21. Juni 2011 getroffen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Bundesrepublik Deutschland kann das Urteil innehalb einer Frist von drei Monaten anfechten.

Reaktionen auf das Urteil des EGMR

Der Bundesverwaltungsrichter Dieter Deiseroth forderte eine gesetzliche Regelung. Er verwies auf die USA, wo ein Arbeitnehmer, der sich als Whistleblower betätigte, dann auch davor geschützt wird wegen ganz anderer - vorgeschobener - Gründe kurz danach gekündigt zu werden[5].

Presseveröffentlichungen

Das Echo auf dieses Urteil war in den Medien sehr lebhaft, es kam zu über 350 Artikel innerhalb von zwei Tagen - mit Überschriften wie:

  • Berliner Altenpflegerin: Kritik an Arbeitgeber ist kein Kündigungsgrund
Altenpflegerin Brigitte Heinisch aus Berlin hatte Anzeige gegen ihren Arbeitgeber Vivantes erstattet - wegen Missständen im Betrieb. Ihr wurde gekündigt. ... Berliner Morgenpost
  • Gekündigte Altenpflegerin bekommt Recht. Rundfunk Berlin-Brandenburg
  • Gekündigte Altenpflegerin über EGMR-Urteil "sehr zufrieden" (net-tribune.de)
  • Whistleblowing - Altenpflegerin siegt vor Menschenrechts-Gericht (Focus Online)
  • Sieg für Altenpflegerin (Taz)
  • Urteil: Kritik am Arbeitgeber kein Kündigungsgrund (ZDF Heute)
  • Kündigung wegen Kritik an Arbeitgeber ist illegal (AFP via Yahoo!)
  • Kommentar: Urteil zu Arbeitgeberkritik stärkt Mutige. Das Schicksal der Altenpflegerin Brigitte Heinisch ist kein Einzelfall. (ARD Tagesschau)
  • Ein Gesetz fehlt bis heute (taz)
  • Neues EGMR-Urteil: Darf jetzt jeder über seine Firma motzen? (G. Rosemann in BILD, 23.7. antwortet sehr differenziert darauf)
  • Europäischer Gerichtshof schützt Meinungsfreiheit von Arbeitnehmern (Hannoversche Allgemeine Zeitung)


Literatur

  • Brigitte Heinisch: Satt und sauber? Eine Altenpflegerin kämpft gegen den Pflegenotstand. rororo, Hamburg, 2008. 224 S. ISBN 978-3499623387
  • Claus Fussek, Sven Loerzer: Alt und abgeschoben. Der Pflegenotstand und die Würde des Menschen. Herder, Freiburg, 2005, 2. Aufl. ISBN 3451284111 (Rezension Sven Lind vom 20.12.2005 in socialnet )

Weblinks

Nachweise

  1. Einstellung nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnnung
  2. Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 3. August 2005, Az: 39 Ca 4775/05
  3. Landesarbeitsgericht Berlin, Urteil vom 28. März 2006, Az: 7 Sa 1884/05
  4. Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 6. Juni 2007, Az: 4 AZN 487/06
  5. Eine Gesetz fehlt bis heute, taz vom 21. Juli 2011

Siehe auch



Bitte beachten Sie auch den Hinweis zu Rechtsthemen!