Primary Nursing

Aus Familienwortschatz
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Primary Nursing (oft übersetzt mit Bezugspflege oder Primär-Pflege) ist ein in den 1960iger Jahren entwickeltes Pflegesystem aus den USA. Es geht zurück auf Marie Manthey.

Entstehungsgeschichte

Der Grundgedanke des Primary Nursing (PN) hat laut Manthey mit der Entprofessionalisierung der Pflege Mitte des letzten Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten zu tun. In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts arbeiteten die Krankenschwestern weitgehend autonom. Die Pflegekraft kümmerte sich von dem Zeitpunkt an um den Patienten, sobald ein Pflegebedarf bestand. Dies geschah meist in den Wohnungen der Kranken. Es gab keine Vorschriften, Routineprozeduren und keinen Zeitplan. Diese Freiheit, Entscheidungen zu treffen und autonom zu handeln, sind laut Manthey Zeichen einer echten Profession. Durch die Verlagerung der Krankenversorgung aus dem häuslichen Umfeld in Krankenhäuser zerfiel diese Struktur. Arbeitsvorgaben und Richtlinien wurden geschaffen. Es entstand eine Differenzierung der Pflegekräfte (PH, KPH, staatlich geprüftes Personal, Pflegekräfte mit akademischer Ausbildung). Somit konnte keine Gesamtheit der Pflege ausgehend von einer Fachkraft aufrecht erhalten werden. Es entstanden hierarchische Strukturen in den Krankenhäusern und das staatlich geprüfte Personal wurde ausführendes Organ der Angaben von akademischen Fachkräften und zugleich Aufpasser über die niedrigeren Personalgruppen (KPH, PH).

Um aus einer Ent- und Deprofessionalisierung wieder eine Professionalisierung zu machen, wurde PN von Marie Manthey am University of Minnesota Hospital entwickelt und 1969 erstmals umgesetzt. Das Modell geht davon aus, daß eine Pflegekraft die umfassende Verantwortung für die Pflege einer begrenzten Patientengruppe übernimmt. Somit kann wieder von einer ganzheitlichen Versorgung eines Patienten durch eine Pflegekraft gesprochen werden.

Unterschied zu anderen Pflegesystemen

Im Unterschied zur Funktionspflege oder Formen der Bereichspflege, wie z.B. der Gruppenpflege, übernimmt ausschließlich diese Pflegeperson die Verantwortung für die Aufnahme des Patienten, die Pflegeplanung und somit für den gesamten Pflegeprozess bis hin zur Entlassungsplanung. Ist die Primary Nurse nicht im Dienst, übernimmt eine sogenannte Associate Nurse (zugeordnete Pflegekraft) die durchzuführenden Handlungen. Die AN hält sich dabei strikt an die Vorgaben der PN und weicht von deren Pflegeplanung nur dann ab, wenn sich an der Versorgungssituation des zu Betreuenden etwas akut ändert.

Die Aufgaben der Stationsleitung beschränken sich auf die Koordination und auf das Stationsmanagement. Sie hat im Idealfall keinen Einfluss auf den Pflegeplan der primär pflegenden Pflegekraft, als sinnvoll hat sich lt. Praxisberichten aber erwiesen, dass sie die Zuteilung der Patienten zur jeweiligen PN übernimmt.

Mit dem Instrument zur Erfassung von Pflegesystemen IzEP ([1]) wird durch Befragungen verschiedener Personen einer Station sowie einer Dokumentations-/Dienstplananalyse das auf dieser Station umgesetzte Pflegesystem gemessen. Eine Skala von 0 bis 100% zeigt die Umsetzung von Primary Nursing an, wobei 0% = kein erkennbares System und 100% „perfektes“ Primary Nursing bedeutet. Referenzwerte zeigen Bereiche der Funktions-, Bereichs- und Bezugspflege:

  • Keine Regelung <10%
  • Funktionspflege im Bereich zwischen 10% und 40%
  • Bereichspflege von 40% bis 75%
  • Primary Nursing/Bezugspflege/Pflegerische Prozessverantwortung ab 75% bis 100%.

IzEP orientiert sich an den Dimensionen Pflegekonzeption, Arbeitsorganisation, Pflegeprozess, Kommunikation sowie dem Rollenverständnis der Pflegenden und der Stationsleitung und basierend auf den Merkmalen von Manthey.

Definitionen

Es gibt unterschiedliche Definitionen:

Manthey (1980):

  1. Zuteilung und Akzeptanz individueller Verantwortung für pflegerische Entscheidungen einer Pflegeperson.
  2. Arbeitszuweisung nach der Fallmethode.
  3. Direkte Kommunikation
  4. Umfassende pflegerische Verantwortung für einen Patienten, der Pflegeleistungen von einer bestimmten Station oder sonstigen Stelle erhält.


Marram et al. (1976):

Primary Nursing ist die Durchführung von umfassender, kontinuierlicher, koordinierter und individualisierter Pflege durch die Primary Nurse, die über die Autonomie, Rechenschaftspflicht und die Autorität verfügt, als verantwortliche Pflegeperson für ihre Patienten zu handeln


Anderson / Choi (1980):

PN ist als Pflegesystem so organisiert, dass es die kontinuierliche und umfassende pflegerische Versorgung der Patienten maximiert. Den Schwerpunkt bildet eine Pflegeperson, die über die professionelle / organisatorische Autonomie verfügt, die Verantwortung und Rechenschaftspflicht für die Pflegeplanung und, soweit möglich, die umfassende pflegerische Versorgung bestimmter Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts zu übernehmen. Im Idealfall erstreckt sich diese Verantwortung auch auf die Wiederaufnahme eines Patienten, auf häusliche Pflege und die weitere ambulante Versorgung.


Hegyvary (1982):

  • Rechenschaftspflicht: Eine Pflegeperson, die PN, ist 24 Stunden am Tag verantwortlich für die Pflege eines Patienten während seines gesamten Krankenhausaufenthaltes.
  • Autonomie: Die PN verfügt über und handelt mit der Autorität, Entscheidungen über die Pflege ihrer Patienten in professioneller Selbstbestimmung zu treffen.
  • Koordinierung: Kontinuierliche Pflege rund um die Uhr, nicht unterbrochen durch Schichtwechsel und mit direkter Kommunikation der Pflegedurchführenden.
  • Umfassende pflegerische Versorgung: Jede Pflegeperson führt die gesamte erforderliche Pflege für einen Patienten während einer bestimmten Zeitspanne, beispielsweise einer Schicht, durch.

Bezugspflege

Primary Nursing, Primäre Pflege oder Bezugspflege sind unterschiedliche Begriffe für die identische Form von patientenorientierter Pflegeorganisation mit Bezug auf die vier Merkmale von Manthey (vgl. Abderhalden et al., 2006; Mischo-Kelling/Schütz-Pazzini 2007). Ihr Gebrauch ist eher regional bestimmt, so wird in der Schweiz immer von Bezugspflege gesprochen, im Hamburger Raum eher von Primärer Pflege und anderswo von Primary Nursing.

Eine logische Darstellung von Pflegesystemen von Büssing (1997) zeigt eine Grafik, auf deren X-Achse die Funktions- bzw. Patientenorientierung dargestellt und auf deren Y-Achse die Form der Pflegeorganisation von Station über Bereich, Gruppe, Zimmer zum Patient. Hier lässt sich gut ablesen, dass sich Pflegesysteme oft nicht klar voneinander unterscheiden lassen und auch ineinander übergehen. Es kann also auch patientenorientierte Funktionspflege oder funktionsorientierte Bezugspflege/PN durchgeführt werden. PN/Bezugspflege ist also patientenorientierte Bezugspflege.

Schlüsselkonzepte

Verantwortung

  • umfassende Übertragung der Verantwortung innerhalb des gesamten Aufenthaltszeitraums für die Pflege eines Patienten/einer Patientengruppe (bis zu 4 Patienten) an die Primary Nurse; die Zuteilung der Patienten(gruppe) ist Aufgabe der Stationsleitung
  • nicht mehr die Stationsleitung oder „das Team“ entscheiden und verantworten die Ausgestaltung der individuellen Pflege, sondern die Primary Nurse
  • klarer Rahmen für die Aufgaben der einzelnen Mitglieder des Stationsteams notwendig
  • genaue Stellenbeschreibungen notwendig
  • Primary Nurse trägt die unmittelbare patientenbezogene Verantwortung
  • Stationsleitung trägt die Verantwortung für Mitarbeiterführung, Organisation der Station und Qualitätsentwicklung auf Stationsebene


Kontinuität der Pflege

  • Die Festlegung, wer für den jeweiligen Patienten das Primary Nursing übernimmt, sollte möglichst schon bei der Aufnahme erfolgen, spätestens aber in der folgenden Schicht (ausgenommen ist aber die Nachtschicht).
  • Die Primäre Pflegekraft übernimmt die kontinuierliche Rechenschaftspflicht für eine festgelegte Patientengruppe, was auch nachvollziehbar dokumentiert sein muss.
  • Kontinuität erfordert die Orientierung aller organisatorischen Rahmenbedingungen am Interesse des Patienten: Die Pflegeanamnese sollte nach 24 Stunden erfolgt sein, die Pflegeplanung nach maximal 36 Stunden.
  • Eine Anpassung der Dienstplanung ist notwendig, sinnvoll sind mindestens drei aufeinander folgende Dienste der Primary Nurse. Dabei sind Früh- und Spätschichten möglich, allerdings kein Nachtdienst. Für die Zeit ihrer Abwesenheit muß eine Associated Nurse die Planung der Primary Nurse verbindlich umsetzen. Nur akute Veränderngen, die sofortige Entscheidungen notwendig machen, rechtfertigen eine Abweichung von der Planung ohne Rücksprache mit der PN. Die Begründung muss anschliessend dokumentiert werden.
  • Dienstpläne werden an die Aufenthaltsdauer der Patienten angepasst (kurze Verweildauer = möglichst häufige Anwesenheit der PN; längerer Aufenthalt = zwischenzeitliche Abwesenheit der PN möglich) und ggf. müssen flexible Dienstzeiten eingeführt werden (eine PN mit Teilzeitstelle könnte z.B. zwar fünf Tage die Woche anwesend sein, aber mit verkürzten Schichtzeiten). Vor einem längeren geplanten Urlaub sollte eine Pflegekraft kein Primary Nursing übernehmen.


Direkte Kommunikation

  • Die Primary Nurse übernimmt die Absprachen und Koordination bezüglich der Pflege und Behandlung ihrer Patienten.
  • Übergaben finden vor Ort statt, also "am Bett"/ im Patientenzimmer, damit sich der "neue" Ansprechpartner dem Patienten vorstellt.
  • Sie spricht sich sowohl mit den anderen Pflegenden als auch mit Ärzten und anderen an der Versorgung Beteiligten ab, dies erfordert ausgeprägte kommunikative Kompetenzen und die Fähigkeit zur teamorientierten Arbeit und Kommunikation.
  • Primary Nurses können auch AnsprechpartnerInnen für Dienstleister außerhalb der Einrichtung werden, also z.B. ambulante Pflegedienste, stationäre Einrichtungen und niedergelassene Ärzte.


Pflegeplanender ist zugleich Pflegedurchführender

  • Die Kompetenz, die die Primary Nurse besitzt, kommt besonders im direkten Kontakt zum Patienten zum Tragen.
  • Ihre Informationen über den Patienten, die sie zur Koordinierung des Versorgungsverlaufs braucht, muß sie bei der Arbeit mit dem Patienten erwerben
  • Gleichzeitig kann die Primary Nurse Aufgaben an andere delegieren, die nicht direkt mit der Pflege des Patienten zu tun haben, z.B. Vor- und Nachbereitung von Material, Aufbereitung von Betten, Hol- und Bringedienste, administrative Tätigkeiten usw. Hier ist zu prüfen, in wie weit Hilfskräfte zum Einsatz gebracht werden können
  • Die AN des jeweiligen Patienten erhält durch die PN ebenfalls Vorgaben zur Versorgung des Patienten. Associated Nurses sind keine Pflegenden zweiter Klasse, sondern werden mit ihren gesamten fachlichen Fähigkeiten gefordert, z.B. in der kritischen Auseinandersetzung mit der Pflegeplanung der PN.

Ziele

  • klare Zuständigkeit in der Pflege
  • klare Kommunikationswege
  • hohe Kontinuität der Versorgung des jeweiligen Patienten
  • Autonomie der direkt mit dem Patienten arbeitenden Pflegenden
  • Steigerung der Bewohner-, Angehörigen- und Mitarbeiterzufriedenheit

Die Implementierung von PN ist aber nicht zwingend mit einer Qualitätssteigerung der Pflege verbunden. Lt. Manthey kann auch nach Einführung des PN die Qualität auf einem schlechteren Niveau bleiben. Es hängt von jeder einzelnen Pflegekraft ab, was sie aus den neu gegebenen Rahmenbedingungen macht und inwieweit sie sich positiv einbringt. Ein Vorteil ist aber lt. Manthey die Transparenz der erbrachten Arbeit am Patienten. Schlecht arbeitende Pflegekräfte können sich nicht mehr im Team verstecken, Fehler werden sofort aufgedeckt und können damit am besten angegangen werden.

Literatur

Bücher:

  • Büssing, André (1997): Von der funktionalen zur ganzheitlichen Pflege. Göttingen: Verlag für angewandte Psychologie.
  • Elkeles, T. (1993): Arbeitsorganisation in der Pflege. Mabuse-Verlag, Frankfurt.
  • Ersser, S; Tutton, E. (2000): Primary Nursing. Grundlagen und Anwendung eines Pflegesystems. Verlag Hans Huber, Bern
  • Hannelore Josuks: Primary Nursing: Ein Konzept für die ambulante Pflege. Ein Leitfaden zur Implementierung eines neuen Pflegesystems. 2. Auflage 2008. ISBN 978-3-89993-209-6 <A href='www.pickitisbn:978-3-89993-209-6'><img style='border: 0px none' src='https://www.citavi.com/softlink?linkid=findit' title='Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen'/></A>
  • Manthey, M.; Primary Nursing. Hans Huber, 2. Auflage 2005 - Rezension
  • Mischo-Kellig, M.; Schütz-Pazzini, P. (2007): Primäre Pflege in Theorie und Praxis. Huber, Bern, ISBN 978-3-456-84322-3 <A href='www.pickitisbn:978-3-456-84322-3'><img style='border: 0px none' src='https://www.citavi.com/softlink?linkid=findit' title='Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen'/></A>
  • Schlettig, HJ; von der Heide, U. (1993): Bezugspflege. Springer Berlin u. a. O. ISBN 3540639632 <A href='www.pickitisbn:3540639632'><img style='border: 0px none' src='https://www.citavi.com/softlink?linkid=findit' title='Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen'/></A> (z Zt ni lieferbar)
  • Stuhl, T. (2006): Primary Nursing in der stationären Altenpflege. Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hannover


Zeitschriften:

  • Abderhalden, C., Boeckler, U., Dobrin Schippers, A., Feuchtinger, J., Schori, E. & Welscher, R. (2006): » Ein Instrument zur Erfassung von Pflegesystemen (IzEP©) Vorgehen bei der Instrumentenentwicklung«. PrInterNet [1]2006 (07-08).
  • Boeckler, Uta (2006): »Primary Nursing einfach evaluieren?«. PrInterNet [2] 2006 (07-08).
  • Dobrin Schippers, A. et al: An der Bezugspflege Mass nehmen. [3]Krankenpflege 12/2008
  • Fuhr, A. (2005) "Primary Nursing in der Ausbildung", in: Pflegezeitschrift 58(9); S.564-567
  • Krüger, H. (2006) "Primary Nursing - lohnt sich der Aufwand?", in: Die Schwester Der Pfleger 02 / 06; S. 92-95
  • Teigeler, B. (2006) "Das Pflegesystem der Zukunft", Interview mit Prof. Dr. Renate Tewes, in Die Schwester Der Pfleger 02 / 06; S. 88-90 *Tschinke, I. (2003) "Dezentrale Qualitätsicherung am Beispiel der Bezugspflege" Teil 1, in: Psych. Pflege Heute 4(9): S.210-213
  • Tschinke, I. (2003) "Dezentrale Qualitätsicherung am Beispiel der Bezugspflege" Teil 2, in: Psych. Pflege Heute 5(9); S.249-253
  • Tschinke, I. (2003) "Dezentrale Qualitätsicherung am Beispiel der Bezugspflege" Teil 3, in: Psych. Pflege Heute 6(9); S.318-323

Weblinks

Siehe auch