Wohnungslosigkeit

Aus Familienwortschatz
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Die Bezeichnung Wohnungslosigkeit beschreibt als Oberbegriff die Lebenslage von Menschen ohne festen Wohnsitz oder geschützten privaten Wohnraum. Häufig werden die Bezeichnungen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit [1] gleichbedeutend verwendet. Die in vormaliger Zeit gewohnheitsgemäße Bezeichnung als nichtsesshafte Personen wird auf Grund des stark diskriminierenden Bedeutungshintergrunds, gerade in der Zeit des "Dritten Reiches" der Nazis, nicht mehr verwendet. Umgangssprachlich werden wohnungslose Menschen, ebenfalls mehr oder weniger diskriminierend, als Berber, Sandler oder Penner bezeichnet.

Wohnungslosigkeit ist ein wichtiger Hinweis auf Armut. Sie hat sehr oft den Hintergrund einer massiven Krise in der Lebensgeschichte.

Definition Wohnungslosigkeit (BAG Wohnungslosenhilfe)

Laut der offiziellen Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe in Deutschland sind Menschen wohnungslos, wenn sie über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen und auf ordnungs- oder sozialrechtlicher Grundlage in eine kommunale Wohnung oder in ein Heim der Wohnungslosenhilfe eingewiesen werden.

Darüber hinaus besteht Wohnungslosigkeit auch, wenn die Betroffenen in einer Notunterkunft oder als Selbstzahler in einer Billigpension leben. Wohnungslos sind zudem jene Personen, die „Platte machen“ (BAG-W 2006). Dies ist ein szeneüblicher Ausdruck und bedeutet, ohne jede Unterkunft auf der Straße leben.

Die durch die Wohnungslosigkeit hervorgerufene gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung ermöglicht den Betroffenen nur wenig Rückgriffsmöglichkeiten auf ein soziales Umfeld, das sie materiell und emotional angemessen unterstützen könnte. Viele Wohnungslose stammen aus defizitären familiären Verhältnissen, die nur wenig Schutz und Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Traumatische Erfahrungen, wie z.B. der Tod nahestehender Personen oder der Verlust beruflicher Existenz stellen dabei häufig Faktoren dar, die wesentlichen Anteil an der Entstehung einer Wohnungslosigkeit tragen (Essendorfer 2006). Weiterhin ist das fehlende Arbeitseinkommen häufig der Grund, warum wohnungslose Menschen aus dem Regelsystem der sozialen Absicherung und der Gesundheitsfürsorge weitgehend ausgeschlossen sind. Die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen erhöht die Gefahr der Fremdbestimmung durch die Akteure des Hilfesystems und öffentlicher Behörden (Notz 2005).

Zahlen wohnungsloser Menschen in Deutschland

Gegenwärtig leben in der Bundesrepublik Deutschland nach aktuellen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe insgesamt 292.000 wohnungslose Personen (Ein- und Mehrpersonenhaushaushalte ohne wohnungslose Aussiedler in Übergangswohnheimen)(BAGW 2006). Zum großen Teil sind zwar Männer durch eine Wohnungslosigkeit betroffen (55%), der Anteil wohnungsloser Frauen sollte dabei jedoch nicht unterschätzt werden. Knapp ein Viertel (23%) der von Wohnungslosigkeit Betroffen sind Frauen. Darüber hinaus beträgt der Anteil der wohnungslosen Kinder und Jugendlichen etwas mehr als ein Fünftel (22%) aller Wohnungslosen.

Die Gesundheitssituation wohnungsloser Menschen

Vor dem Hintergrund der gefährdenden Lebensbedingungen und ohne den Schutz eines sicheren und angemessenen Lebensraums sind wohnungslose Menschen kontinuierlich gesundheitlichen Gefahren und Beeinträchtigungen ausgesetzt. Vor allem Wohnungslosen ohne jede feste Unterkunft ist der Schutz vor den Witterungsverhältnissen und den defizitären hygienischen Verhältnissen häufig oder zeitweise nur unzureichend möglich. Ein besonders Problem stellt die Kälte im Winter dar. Zudem befinden sie sich ständig in Gefahr, Opfer von zum Teil lebensgefährlichen Gewalthandlungen oder von ihren sicheren Rückzugsorten vertrieben zu werden (Essendorfer 2006). Wohnungslose Menschen ohne jede feste Unterkunft haben, soweit das Hilfesystem vor Ort kein ausreichendes Netzwerk für sie bietet, kaum Zugang zu Orten, an denen hygienische Bedürfnisse befriedigt werden können oder der Erhalt von Lebensmitteln möglich ist (Carter et al. 1994, Peters-Galwick 2001).

Aber auch Wohnungslose in sogenannten Notunterkünften sind meist nicht ausreichend geschützt vor unhygienischen Verhältnissen, Gewalthandlungen und Eingriffen in die Intimsphäre. Diese nachteiligen Lebensbedingungen führen langfristig zu Depersonalisierung und Selbstaufgabe und letztendlich zum Verlust der körperlichen Selbstwahrnehmung (Essendorfer 2006). Die klimatischen Bedingungen, Fehl- und Mangelernährungen und die mangelnde Körperhygiene haben in hohem Ausmaß chronifizierte Mehrfacherkrankungen zur Folge (Völlm et al. 2004). Insbesondere Erkrankungen des Bewegungsapparates, gastrointestinale Störungen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen treten im Vergleich zur nicht wohnungslosen Bevölkerung häufiger auf. Entzündliche Hauterkrankungen, Parasitosen und die schlechte Zahngesundheit deuten auf die unzureichenden Selbstpflegemöglichkeiten auf der Straße hin (Trabert 1995; Peters-Galwick 2001).

Verletzungen, Wunden: Unter den unhygienischen Verhältnissen führen durch Unfälle oder Gewalthandlungen verursachte Verletzungen häufig zu schweren, teilweise zu lebensbedrohlichen Wundinfektionen.

Bei anhaltender Wohnungslosigkeit verändert sich zudem das gesundheitsbezogene Selbstbild (Trabert 1995). Durch Fremdeinschätzungen wahrgenommene Gesundheitseinschränkungen und Krankheiten werden oftmals nicht als Defizite wahrgenommen, sondern soweit möglich in den Alltag integriert. Die defizitären Lebensbedingungen verstärken eine sich schädigende Selbstwahrnehmung und bewirken einen zunehmenden Identitätsverlust der betroffenen Personen. Das Verständnis von der eigenen Gesundheit verkürzt sich dann auf kurzfristig lebenserhaltende Bedürfnisse. Präventives, gesundheitsbewahrendes Handeln hingegen tritt in den Hintergrund oder wird ausgeblendet (Essendorfer 2006).

Aufgaben und Herausforderungen professioneller Pflege

Die pflegerischer Versorgung wohnungsloser Menschen erfolgt in aufsuchender und niedrigschwelliger Form. Spezielle stationäre Angebote unterstützen Wohnungslose bei behandlungsbedürftigen akuten Erkrankungen. Die Bedeutung der Versorgung älterer wohnungsloser Menschen mit zunehmender Pflegebedürftigkeit nimmt in den letzten Jahren zu. In wie weit als Assessmentgrundlage das Schema der ATL nach Liliane Juchli bzw. der ADL nach Nancy Roper anwendbar sind bleibt fraglich.

Das Spektrum der pflegerischen Unterstützung erstreckt sich von der Befähigung zur Selbsthilfe zur Überwindung der wohnungslosen Lebensphase bis hin zur akuten Intervention, um lebensbedrohlichen Komplikationen vorzubeugen oder diese abzumildern.

Grundlage jedes pflegerischen Handelns und konkreter Hilfeleistungen ist dabei eine intensive vertrauensbildende Beziehungsarbeit. Pflegende vor Ort machen immer wieder die Erfahrung, dass erst die sich über Monate, teilweise sogar Jahre entwickelten vertrauensvollen Beziehungen konkreten, weiterführenden Hilfen das Tor öffnen (Stehling 2006).Der Abbau von Misstrauen, Scham und Ängsten aus durchlebten negativen Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen, stellt für die professionell Pflegenden eine große Herausforderung im Umgang mit dieser Zielgruppe dar. Rückschläge, die aus Enttäuschungen wechselseitiger Erwartungen entstehen können, bergen die Gefahr, dass der grundlegende Rahmen konkreter körpernaher und sozialer Hilfen gestört, wenn nicht sogar zerstört wird. Um so wichtiger ist es deshalb, dass pflegerisches Handeln einerseits eine hohe personelle und organisatorische Kontinuität aufweist und anderseits auf die aktuellen Bedürfnisse der hilfesuchenden Wohnungslosen flexibel reagiert.

Fundierte pflegerische und medizinische Kenntnisse und die Fähigkeit diese unter extremen Bedingungen umsetzten zu können stellen grundsätzliche Voraussetzungen in der pflegerischen Versorgung dar. Charakteristisch und grundlegend für alle Formen der Unterstützung wohnungsloser Menschen ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pflegenden, Medizinern, Sozialarbeitern/-pädagogen und anderer Professionen im Gesundheits- und Sozialwesen. Die Aufgaben im Casemanagement setzen deshalb Durchsetzungsfähigkeit, Organisations- und Koordinationsgeschick voraus.

Auswirkungen organisatorischer und gesetzlicher Rahmengebung auf die pflegerische Versorgung wohnungsloser Menschen

Dem intensiven und umfassenden Versorgungsaufwand wohnungsloser Menschen stehen organisatorische und gesetzliche Rahmenbedingungen gegenüber, welche die pflegerische Arbeit vor Ort erschweren und behindern. Vor allem die gegenwärtigen Regelungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) sowie der gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI) entsprechen häufig nicht dem eigentlichen Bedarf und der Lebenswirklichkeit wohnungsloser Menschen. Mit der Einführung des Gesundheitsmodernisierungsgesetztes (GMG) im Jahr 2004 traten im Rahmen des SGB V neue Regelungen in Kraft, welche die Inanspruchnahme von pflegerischen und medizinischen Hilfen besonders für Wohnungslose erheblich erschweren. Finanzielle Einschränkungen und Zuzahlungen bewegen Wohnungslose, ärztliche und pflegerische Hilfen trotz erheblicher gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr aufzusuchen oder notwendige Medikamente nicht mehr zu besorgen (Kunstmann 2006). Auch in den Regelungen der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) findet der pflegerische Handlungsbedarf bisher keine angemessene Grundlage. Das System, das auf die Erbringung vereinzelter, primär körperbezogener Verrichtungen ausgerichtet ist, wird den lebenslagenbezogenen umfassenden Bedürfnissen und Prioritäten wohnungsloser Menschen nicht gerecht. Körberbezogene Verrichtungen werden z. B. erst möglich, wenn dem hohen Kommunikationsbedarf vieler wohnungsloser Menschen Rechnung getragen wird. Diese häufig sehr zeitaufwendige Beziehungsarbeit findet im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung keine Berücksichtigung.

Über die gesetzlichen Vorgaben hinaus schränken aber auch noch andere Rahmenbedingungen die Handlungsoptionen professionell Pflegender mehr oder weniger stark ein. Zum einen lassen die zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen in den meisten Einrichtungen keine dem eigentlichen Bedarf angemessene und über den Minimalstandard hinausgehende personelle und materielle Ausstattung zu. Die Hilfen beziehen sich daher meist nur auf einzelne Teilbereiche der individuellen Problemlagen wohnungsloser Menschen. Hinzu kommt, dass durch den Projektcharakter vieler Anlaufstellen die Finanzierung nicht gesichert ist. Letztendlich schränken Aspekte, die den Entwicklungsstand der professionellen Pflege in Bezug auf die Begleitung und Versorgung wohnungsloser Menschen selbst betreffen, das pflegerische Handeln und den Standpunkt der Pflege vor Ort ein. Innerhalb des Systems der Wohnungslosenhilfe hat die professionelle Pflege erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen und wird in ihren Positionen erst seit kurzem durch andere beteiligte Berufsgruppen vermehrt wahrgenommen. Anderseits finden die Lebenswirklichkeit wohnungsloser Menschen und die damit im Zusammenhang stehenden Bedingungen der pflegerischen Versorgung in der fachlichen und berufspolitischen Diskussion bisher erst wenig Beachtung. Die Umsetzung des Pflegeprozesses und die Übertragung der bestehenden Standards auf die Versorgungssituation wohnungsloser Menschen scheinen in den Augen vieler Beschäftigten in der Wohnungslosenhilfe problematisch zu sein (Reifferscheid 2006).

Ausgewählte Literatur

  • Carter K.F. Green R.D. Gree L. Dufour L.T.: Health needs of homeless clients accesing nursing care at a free clinic, Journal of Communitiy Health Nursing 11(1994) 3 : 139 – 147 (engl.)
  • Essendorfer L.: Das subjektive Gesundheitsverständnis erwachsener wohnungsloser Menschen; Masterarbeit (unveröffentlicht), Universität Witten/Herdecke, 2006
  • Essendorfer L.: An den Lebenslagen orientierten - Strukturen der professionellen Pflege in der Wohnungslosenhilfe, Pflegezeitschrift (2007)12 : 666 - 669
  • Jenrich H: Viele von uns sind so richtige Sturköppe, Altenpflege (1996) 6:384-385
  • Kunstmann W.: Wohnungslose: autonome Patienten und Patientinnen oder Opfer von Ökonomisierung und Wettbewerb Wohnungslos 48 (2006) 3:108-114
  • Locher G. Gesundheits-/ Krankheitsstatus und arbeitsbedingte Erkrankungen von alleinstehenden Wohnungslosen, VHS Verlag Soziale Hilfe GmbH, Bielefeld, 1990
  • Notz G.: Beschäftigungspolitische Strohfeuer – Die geschlechterspezifischen Auswirkungen der Hartz Gesetze, Wohnungslos 47 (2005) 1 : 6 – 13
  • Peters-Galwik M.: Wenn die Straße zur Wohnung wird – Leben und gesundheitliche Situation wohnungsloser Menschen, Heilberufe (2001) 3:28 – 31
  • Pitz A.: Das Leben auf der Straße macht krank, Wohnungslos 46 (2004) 3:21 – 125
  • Reifferscheid G.: Langzeithilfen für ältere (pflegebedürftige) wohnungslose Menschen; Wohnungslos 48 (2006) 2 : 50 – 56
  • Stehling H.: Pflege und Wohnungslosigkeit – Pflegerisches Handeln im Krankenhaus und in der Aufsuchenden Pflege, Masterarbeit (unveröffentlicht), Universität Witten/Herdecke, 2006
  • Trabert G.: Gesundheitssituation und Gesundheitsverhalten von alleinstehenden, wohnungslosen Menschen im sozialen Kontext ihrer Lebenssituation, VHS Verlag Soziale Hilfe GmbH; Bielefeld, 1995
  • Völlm B., Becker H., Kunstmann W.: Prävalenz körperlicher Erkrankungen, Gesundheitsverhalten und Nutzung des Gesundheitssystems bei alleinstehenden wohnungslosen Männern:eine Querschnittuntersuchung; Soziale Präventivmedizin 49 (2004): 42 – 50

Weblinks