Soll die Gesundheits- und Krankenpflege alle „ übertragbaren ärztliche Tätigkeiten“ übernehmen?

Aus Familienwortschatz
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Bezüglich der Übertragung ärztlicher Tätigkeiten an die Pflegenden sind die Diskussionen vielgestaltig: Der 111. Ärztetag in Ulm (2008) endete mit der Aussage, dass die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf die Pflegenden rechtlich nicht möglich und auch nicht gewünscht ist und betonte nochmals die alleinige Zuständigkeit der Ärzte für Diagnostik und Therapie(1). Soweit besteht in dieser Frage Konsens zwischen Medizin und Pflege.


Gesundheits- und Krankenpfleger/innen sind keine Ärzte und wollen auch keine sein

Wir haben unser eigenes Berufsfeld und sind nicht auf die „Übertragung ärztlicher Tätigkeiten“ angewiesen. Wir wollen ganz einfach pflegerisch, professionell und patientenorientiert arbeiten. Wir verleugnen unsere Profession nicht: mit uns kann man neue Wege gehen, wir sind auch teamfähig, wenn man uns als Partner akzeptiert.

Wir haben auch Schwächen: die größte ist vielleicht das uns nachgesagte Helfersyndrom, das man auch so beschreiben könnte:

  1. Wir schätzen die liebevolle Zuneigung zum Patienten und haben Verständnis für alles ohne wenn und aber.
  2. Wir lieben die Überstunden, die nie abgebaut werden können und die man uns nicht bezahlen will.
  3. Aus den "freien Tagen" kommen wir zur Arbeit, bleiben länger, meist dann, wenn mal wieder "Dauerkranke" ausfallen.
  4. Zwischendurch trennen wir den Müll - bis zur Neurose.
  5. Wir verabreichen alle Injektionen, machen jede Blutentnahme und führen Infusionen aus.
  6. Innerhalb einer(Reanimation)arbeiten wir wie die Weltmeister und sind ganz Ohr für die nächsten ärztlichen Anordnungen.
  7. Schwestern und Pfleger ersetzen die Mutter, den Vater, stillen den Liebeskummer der Teenager und sind die "Mülleimer" für unsere Patienten und Besucher.
  8. Nicht selten werden wir von dementen (Demenz) Patienten gekratzt, gebissen, geschlagen und sind der Angriffspunkt für alle Frustrierten.
  9. Wir sind nicht nur Krankenschwester und Krankenpfleger sondern auch:Krankentransportdienst, Hol- und Bringedienst, Toilettenfachfrau bzw. Toilettenfachmann, Arztersatz, Nothelfer, Hotelfachkraft, Gastronom, Reinigungskraft, hoch qualifizierte Bürokraft mit umfassenden Computerkenntnissen, Seelsorger und immer bereitwillige Lückenbüßer - es ist ja so schön gebraucht zu werden! In diesen Fällen liegt das höchste Glück der Erde eben nicht auf dem Rücken der Pferde. Obwohl: Reiten soll ja nach so einem harten Arbeitstag entspannen.
  10. Teamfähig sind wir auch, fehlt es an Ärzten, wir springen ein. Wir ersetzen, auf der Grundlage unserer guten Beziehungen zum PC, flugs auch die Stationssekretärin.
  11. Mit uns kann man so richtig Geld machen, das dann anderenorts ausgegeben wird.
Es ist so schön ein "Mädchen" / ein "Junge" für alles zu sein.

Pflegebedürftigkeit nimmt zu

Bis 2030 wird die Zahl pflegebedürftiger Personen, bei kontinuierlicher Zunahme der Demenz, auf 3,4 Millionen steigen. Diese Patienten brauchen ihre Betreuer zunehmend als Partner, Manager, Animateure, Lotse, Steuermann und vor allen als Unterstützer innerhalb ihrer Grundbedürfnisse. In dieser Situation wird auch die stationäre Pflege zunehmend die Assistenz der "Pflegebegleiter" brauchen.

Unterschiedliche Erwartungen

Je nach Art des Arbeitgebers (Öffentlicher Dienst, Konzernkliniken) bestehen in der täglich erlebbaren Praxis unterschiedliche Erwartungen an die Pflegenden, die vom Arbeitnehmer nicht umgangen werden können: Während innerhalb des Öffentlichen Dienstes auf der Grundlage von Stellenbeschreibungen „ärztliche Tätigkeiten“ oft ausgeschlossen sind, gibt es in der Privatwirtschaft die Meinung, dass diese durch Delegation zum Bestandteil der pflegerischen Tätigkeit gemacht werden können. In diesen Kliniken hat der Pflegedienst keine Arbeitsplatzbeschreibungen (Funktionspläne), sondern ist dem Ärztlichen Direktor unterstellt, wie auch die „Leitende Krankenschwester“, bzw. der „Leitende Krankenpfleger“. Der Ärztliche Direktor allein trägt innerhalb dieses Systems die Gesamtverantwortung für Medizin und Pflege. „Wir wollen unsere Mitarbeiter nicht einengen“ hört man immer dann, wenn nach der Begründung des Fehlens der Arbeitsplatzbeschreibung gefragt wird: uneigennützig ist das natürlich nicht. In der Realität wird die Pflege so zur „verschiebbaren Masse“. Und das ist der Tod jeglicher Professionalisierung, aber gut für die Erlöse.

Der Schutzgedanke, der ärztlichen Letztverantwortung für Diagnostik und Therapie, ist auch von Seiten der professionellen Pflege unbestritten. Medizin und Pflege bedingen einander und müssen daher als Gemeinschaftaufgabe / (4) und (5) / im Sinne einer hohen Patientenorientierung, vor allen Dingen über Ressortegoismen hinaus begriffen werden. Der richtige Weg wäre hier die echte Kundenorientierung, die als Gegenpol der Allmacht irgendeiner Berufsgruppe im Krankenhaus für die Patienten nur von Vorteil sein könnte, auch wenn diese Forderung sehr unterschiedlich diskutiert wird(7).

Pflegende sind flexibel

Die Profession Pflege ist bereit, arztunterstützende und arztentlastende Maßnahmen (keine reinen ärztlichen Tätigkeiten) zu übernehmen. Das betrifft allerdings nicht, wie leider von den Ärzten oft erwartet, die Essenversorgung das Kaffeekochen und auch nicht die Botengänge. für die Ärzte.

Die vorausgehende komplette Entlastung von allen pflegefremden Tätigkeiten ist die Voraussetzung. Denn, die Erfahrungen mit Klinikhotels und Servicekräften auf den Stationen sind gut. Bloß: sie passen nicht in die alt hergebrachten Traditionen. Modern geführte Krankenhäuser realisieren diese Arbeitsteilung und Kooperation schrittweise, mit den besten Ergebnissen. Vor allen Dingen nimmt die Zufriedenheit des Pflegepersonals signifikant zu(3). Bremser sind noch die Besitzstandswahrer und Problemsucher in unseren Leitungsebenen, die den Wandel einfach nicht begreifen wollen.

Allianz zwischen Medizin und Pflege

Es wäre „weltfremd“, wollte man nicht einräumen, dass schon jetzt von erfahrenen und gut ausgebildeten Gesundheits- und Krankenpflegern/innen „ärztliche Tätigkeiten“, innerhalb einer „aus der Not heraus geborenen Allianz zwischen Medizin und Pflege“, als Teamwork ausgeführt werden. Diese „strategische Allianz“ wird von einigen Klinikbetreibern gar nicht gewollt. Sie ist allerdings Folge der Lohsteigerungen im ärztlichen Dienst.

Gleichzeitig wurde im Pflegedienst massiv Personal gestrichen, so „beißt sich mal wieder die Katze in den Schwanz“. Tatsache ist, dass ohne diese „Stille Kompetenz der Pflegenden“ einige Krankenhäuser gar nicht mehr arbeitsfähig wären.

In der Regel handelt es sich hierbei um die Anfertigung von EKG, die Durchführung von intravenösen Blutentnahmen, die Verabreichung intramuskulärer und intravenöser Injektionen, die Vorbereitung und Durchführung ärztlich verordneter Infusionen, das Legen von venösen Zugängen, die Ermittlung dringlicher Parameter an Laborautomaten auf Station, die Kontrolle und Überwachung der vitalen Funktionen, das Legen von Sonden, der Verbandwechsel. Innerhalb dieser Tätigkeiten sind erfahrene Krankenkschwestern und -pfleger (GuK) in der Regel geübter als so manche Ärzte. Es wurden also Tätigkeiten anderer Berufgruppen in die Pflege verschoben, ohne dass die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden. „Herumwurstelei“ nennt man das im Volksmund.


Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz

will eine Öffnung des Arztvorbehaltes: Modellvorhaben nach § 63 sehen die eigenständige Verordnung von Verbandsmitteln und Pflegehilfsmitteln sowie die inhaltliche Ausgestaltung der häuslichen Krankenpflege durch Kranken- und Altenpfleger vor.

Der Deutsche Pflegerat unterstützt dieses Vorhaben auf der Grundlage der „theoretisch fachlichen Expertise der Pflegewissenschaft, die sich auf wissenschaftliche Forschungen und Begründungen stützt. Innerhalb dieser ist die Eigenständigkeit der Pflege bezüglich der „Ermittlung des Pflegebedarfes, in der Erkennung von Gefährdungspotentialen durch Gesundheitsrisiken und Pflegedefizite, in der Planung und Auswertung des Pflegeprozesses, in der fachlich konkreten Durchführung pflegerischer Maßnahmen, in der Integration medizinischer Maßnahmen in die Lebenswelt der Patienten und in der Verbesserung der Lebensqualität durch pflegerische Interventionen bei chronischen Verläufen“(2) schon heute theoretisch gegeben (Kernaufgaben).

„Wer durch eine fundierte Ausbildung befähigt ist den Pflegebedarf eines Menschen zu ermitteln, der soll dies auch in der Praxis tun dürfen. Wer gelernt hat spezifische Gefährdungen, wie ein Dekubitusrisiko oder ein Sturzrisiko zu erheben, der sollte die Kompetenz erhalten, unverzüglich die notwendigen prophylaktischen Maßnahmen zu ergreifen und dafür auch die finanzielle Honorierung erhalten.“

erklärt die Präsidentin des DPR. (2) Es wird dazu klargestellt: „Dem Deutschen Pflegerat geht es nicht um die Übernahme von ärztlichen Leistungen, für die Pflegende nicht hinreichend ausgebildet sind, wie dies in der Vergangenheit oftmals polemisch unterstellt wurde“, betont Marie-Luise Müller.

„Wenn Pflegende ärztliche Aufgaben übernehmen sollen (…) wird man sich dem nicht verschließen - so die Ansicht des Deutschen Pflegerates. Allerdings muss vorausgesetzt werden, dass die notwendigen Qualifikationen vorliegen und haftungsrechtliche und berufsrechtliche Fragen eindeutig geklärt wurden (2).“

„Im Hinblick auf das Berufsrecht und auf die Vergütung müssen von der Politik die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Pflegeberufe auch im Sinne der Heilkunde dort tätig werden können, wo pflegerische Maßnahmen an der Vermeidung oder Heilung von Krankheiten beteiligt sind“. (2) Das sind Tätigkeiten für deren Übernahme es Rechtssicherheit gibt.

Was daraus wurde

Das erste konkrete Signal in dieser Richtung ist der Entwurf der Heilkundeübertragungsrichtlinie: Ausgebildete Pflegekräfte sollen unter Aufsicht ärztlich tätig werden.

Innerhalb der Intensivpflege ist die Situation klarer

„Es gäbe durchaus Situationen, in denen ärztliche Leistungen, wenn auch nicht substituiert, so doch unter bestimmten Voraussetzungen und ärztlicher Verantwortung an speziell qualifiziertes Personal delegiert werden können, betonte Professor Bernd Landauer, Präsident des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA). Hierzu existierten seit langem anerkannte rechtliche und fachliche Grundsätze. Jeglicher Einsatz nicht-ärztlichen Personals im Bereich ärztlich zu verantwortender Leistungen müsse vor dem Hintergrund des dem Patienten geschuldeten Facharztstandards (???) gesehen werden. Dieser Facharztstandard wird von den jeweiligen Fachgebieten definiert. Konsequenterweise erfordert jegliche Delegation ärztlicher Leistungen im Bereich des Fachgebietes Anästhesiologie, dass die fachliche Qualifikation des nicht-ärztlichen Personals sich nach den Vorgaben zu richten habe, die vom Fachgebiet für die Qualifikation dieses Personals festgelegt würden." (Quelle: DGAI)

Innerhalb der Intensivpflege wird die Übernahme „delegierbarer ärztlicher Tätigkeiten“ durch eine zweijährige Fachweiterbildung „Fachgesundheits- und KrankenpflegerIn für Anästhesie- und Intensivpflege“, in der auch Ärzte unterrichten und in der Praxis anleiten, längst realisiert. Grundlage für dieses Handeln ist, dass die Expertise zwischen den Ärzten und dem Pflegedienst im Fachgebiet Anästhesie und Intensivmedizin, ganz im Unterschied zur Allgemeinpflege, nicht hierarchisch, sondern komplementär ist. Wir wissen schon heute: Die Team- und protokollorientierte Behandlungsorganisation in der Anästhesie und in der Intensivpflege ist der traditionellen, hierarchischen, arzt-zentrierten Behandlungsorganisation deutlich überlegen. Grundlage ist immer eine gute Zusammenarbeit aller an Therapie und Pflege beteiligten. Das wäre, wenn man es denn wollte, auch in der Allgemeinpflege zu realisieren (4).

Die Patientensicherheit

ist das oberste Ziel in einem Krankenhaus, sie ist eng mit der Rechtssicherheit für Pflegende verbunden. Die geplante Neuordnung der Aufgaben im Gesundheitswesen und die damit einhergehende Pflichtenbindung der Pflegenden bedürfen einer Klärung auch innerhalb des Berufs- und Haftungsrechts.


Quellenangabe

(1) Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen (Dr. med. Theodor Windhorst, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe): [ http://www.baek.de/downloads/111Top03Windhorst.pdf]

(2) Stellungnahme des Deutschen Pflegerates zum Ulmer-Papier des 111. Deutschen Ärztetages: [1]

(3) Klinikblog »Stationsservice / Ein Expertenforum: [2]

(4) Teamwork in der Intensivmedizin

(5) Kosteneffizienz in der Intensivpflege

(6) Pflegende in der „Zwickmühle“: Das Umfeld der Pflegenden

(7) Kundenorientierung – Was will sie?

Interne Links